Widersprüchliche Äußerungen, fragwürdige ideologische Grundsätze: Die britische Regierung von Boris Johnson hat bei Corona viel Glaubwürdigkeit verspielt, analysiert unser Korrespondent Peter Nonnenmacher.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Erst zu Wochenbeginn erklärte Boris Johnson seinen Landsleuten, dass sie nun ihre Wohnungen nicht mehr ohne weiteres verlassen dürften. Tags darauf drängten sich U-Bahn-Passagiere in London auf engstem Raum. Denn die Aussagen der Regierung sind verwirrend: Einerseits sollen die Briten sich unverzüglich daheim isolieren. Andererseits hält Downing Street es für nützlich, wenn jemand die Wirtschaft am Laufen hält und zur Arbeit geht. Verwunderlich ist die Ungewissheit also nicht. Der Premierminister selbst hat wochenlang für Verwirrung gesorgt mit seinen Äußerungen.

 

Noch am 1. März hatte Johnson gemeldet, das Virus werde sich zwar „aller Wahrscheinlichkeit ein bisschen weiter ausbreiten“. Aber Britanniens staatliches Gesundheitswesen, der NHS, sei „in der Lage, damit fertig zu werden“. Davon sei er „voll überzeugt“. Zwei Tage später berichtete der Regierungschef stolz, dass er noch immer überall die Hände schüttelte. Selbst nach dem ersten britischen Todesfall beteuerte Johnson, es gelte der Leitsatz: „Business as usual.“

Über 250 000 Zuschauer beim Pferderennen trotz Corona

So strömten vom 10. bis 13. März eine Viertelmillion Gäste mit Zustimmung der Regierung zum Pferderenn-Festival nach Cheltenham. Und Mitte des Monats weigerte sich der Premier noch standhaft, Restaurants, Pubs, Geschäfte oder Schulen per Anordnung zu schließen. War es der Regierung wichtiger, die Räder des Kommerzes am Laufen zu halten, als für den Schutz der Bevölkerung zu sorgen?

In diese Richtung wies jedenfalls eine Formulierung des wissenschaftlichen Top-Beraters Johnsons. Sir Patrick Vallance sprach davon, man müsse die so genannte Herden-Immunität gegen das Virus aufbauen. Eine solche Immunität der Widerstandsfähigsten sei zu erwarten bei einer Ansteckung von 60 Prozent der Bevölkerung. Der nagende Verdacht verstärkte sich, als Johnsons rabiater Chef-Stratege Dominic Cummings mit den Worten zitiert wurde, Priorität müsse „dem Schutz der Wirtschaft“ zukommen – und es sei „halt Pech, wenn das bedeutet, dass ein paar Rentner draufgehen dabei“.

Trump-Rhetorik und Brexit-Nationalismus als Problem

Cummings hat diese Version später bestritten und soll Johnson panisch zum Umdenken gedrängt haben. Viele Briten haben jedenfalls Zweifel, wenn sie Johnsons feierliches Gelöbnis hören, er werde bis Juni „das Blatt gewendet“ haben und „das Virus alsdann zum Teufel jagen“. Donald Trumps Rhetorik lässt hier grüßen. Was sich nun auf fatale Weise rächt, sind nicht zuletzt nationalistische Töne aus vier langen Brexit-Jahren, gekoppelt mit tief sitzenden neoliberalen Auffassungen der regierenden Tory-Regierung, wonach der Staat möglichst wenig eingreifen soll.