Das virtuelle Format rettet einen Teil des Programms zum Motto „Teil der Geschichte – Teil der Gegenwart“ – Antisemitismus und Verschwörungstheorien bleiben vordringliche Themen.

Stuttgart - Das Judentum sichtbar und erlebbar zu machen: Diesem Anspruch wollen die Jüdischen Kulturwochen auch in diesem Jahr gerecht werden. Trotz Corona und reduziertem Programm im virtuellen Format. „Die jüdische Kultur kommt zu Ihnen nach Hause“, versprach Barbara Traub, Vorstandssprecherin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW), bei der Eröffnung am Montagabend. Freilich nicht, wie gewohnt, in großem Rahmen im Stuttgarter Rathaus, sondern per Live-Stream. Als einzig mögliche Alternative rettet das Netz zumindest ein Dutzend der ursprünglich 31 geplanten Veranstaltungen.

 

Zuversicht wird auf eine harte Probe gestellt

„Thema und Motto der Kulturtage waren uns zu wichtig, um ganz darauf zu verzichten“, betonte Traub. Im Focus stehen zwei wichtige Daten: Vor 75 Jahren endete das NS-Terrorregime. „Wer hätte damals davon zu träumen gewagt, dass Juden in Deutschland wieder heimisch werden könnten“, fragte Traub. Doch schon im gleichen Jahr, am 2. Juni 1945, feierten 150 jüdische Überlebende in der Reinsburgstraße den ersten jüdischen Gottesdienst. Sieben Tage später, so Traub, wurde die Jüdische Gemeinde in Stuttgart neu gegründet. „Die Tatkraft und der entschlossene Wille der damaligen Generation, Widerstände zu überwinden und dem Judentum nach der fast vollständigen Vernichtung in der Shoah wieder einen festen Platz in der Stadtgesellschaft zu verschaffen, kann bis heute als Vorbild dienen“, sagte Barbara Traub. Dies solle das Motto der Kulturtage „Teil der Geschichte – Teil der Gegenwart“ aussagen.

Es drücke auch, so Traub, den Optimismus aus, „der dem Judentum zu eigen ist“. Sie verschwieg aber nicht, dass die Zuversicht immer wieder auf eine harte Probe gestellt wird: „Wer hätte vor 75 Jahren gedacht, dass wir auch heute wieder den Antisemitismus nicht ausblenden können?“

„Jüdisches Leben muss in Deutschland sicher sein und sicher bleiben“, sicherte Staatsministerin Theresa Schopper unverbrüchliche Solidarität zu. Nachdem nur 24 von ehemals 5000 Mitgliedern der hiesigen jüdischen Gemeinde überlebt hätten, sei die Leistung der Gründungsväter schier übermenschlich gewesen. „Nun weist unser gemeinsamer Weg in die Zukunft.“ Als Bereicherung bezeichnete Bürgermeisterin Isabel Fezer die offene und lebendige jüdische Gemeinde und die Kulturwochen.

Historiker rechnet mit Politikern ab

Von Optimismus dann keine Spur mehr bei Michael Wolffsohn, der über die Wiederauferstehung alter Gespenster sprach. Denn die Pandemie bringe abstruse Verschwörungstheorien hervor, die wie einst bei der Pest die Juden zu Sündenböcken machen. „Gespenster? Nein, auch keine Zombies, sondern quicklebendige Monster“, stellte der Historiker fest, der 1947 in Tel Aviv geboren wurde. Gewalt gegen Juden gehöre zum deutschen Alltag, „die Schandtaten sind skandalöse Routine“, die Täter seien Rechts-, und Linksextremisten und Islamisten. In Ungarn dagegen müsse nicht einmal die große Synagoge von Budapest durch Polizei geschützt werden. „Die Schönredner vom Dienst“, rechnete er mit den Politikern ab, „reagieren mit Symbol und Papierpolitik, die Justiz verzichtet auf die Anwendung der Gesetze gegen Gewalt.“

Barbara Traub lud zu den Online-Veranstaltungen unter www.irgw.de/kulturwochen. Gestrichen werden mussten Konzerte, Theater, Vorträge, Stadt- und Synagogenführungen. „Wir müssen alle Federn lassen“, bedauert Traub und beweist Optimismus: „In einem Jahr werden wir uns wieder mit prächtigem Gefieder präsentieren können.“

Was vom Programm übrig bleibt

Michael Blume, Antisemitismusbeauftragten des Landes, spricht zu Verschwörungsmythen, 3. November, 19 Uhr. Interessenten erhalten über Telefon 0711 262 43 63 einen Zugangslink per E-Mail.

Um 18 Uhr findet am 3. November eine Lesung mit Musik über die Freundschaft zwischen Paul Celan und Hanne und Hermann Lenz statt.

Über die israelfeindliche Politik der DDR spricht Martin Jander am 4. November um 19 Uhr. Anmeldung unter info@dig-stuttgart.net. Parallel auch unter www.facebook.com/DIGStuttgart ausgestrahlt.

Zu sehen ist die Gemälde-Ausstellung der Senioren und Seniorinnen aus der IRGW-Kunstschule Inessa Magero 5. bis 15. November unter www.irgw.de/kulturwochen .

Über den Humanisten Johannes Reuchlin und seine Bedeutung für unser Toleranzverständnis heute spricht Pfarrer Günter Renz am Donnerstag, 5. November, 18 Uhr.

Der Dokumentarfilm „Ephraim Kishon – Lachen, um zu überleben“ mit anschließendem Gespräch mit dem Regisseur Dominik Wessely wird am 5. November um 20 Uhr gezeigt.

„Flucht aus Stuttgart 1933“: Vortrag von Hans-Joachim Lang am Montag, 9. November, 15.30 Uhr.

Auch die Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht am Montag, 9.November, 18 Uhr, findet ausschließlich online statt (www.irgw.de/gedenken).

„Paul Celans Identitätssuche in Israel im Spiegel seiner Gedichte und der Briefwechsel mit Ilana Shmueli“: Literaturwissenschaftler Jürgen Nelles am Dienstag, 10. November, 18 Uhr.

„Die Mühen des Neubeginns: Das Wiedererstehen jüdischen Lebens nach 1945“ heißt das Thema des Symposiums mit den Historikern Joachim Hahn, Joel Berger, Kerstin Stubenvoll, Jürgen Stude und dem Leiter des Stuttgarter Stadtarchivs, Roland Müller: Donnerstag, 12. November, 14.30 bis 18 Uhr.(www.irgw.de/kulturwochen).