Andreas Hesky (Freie Wähler) ist nicht dafür bekannt, dass er Vorbehalte gegen Migranten hätte. In der Flüchtlingskrise hat der Oberbürgermeister von Waiblingen für eine Willkommenskultur geworben, die größte Stadt im Rems-Murr-Kreis gehört dem Städtebündnis Sichere Häfen an. Dennoch hat der OB jetzt in der Corona-Krise zu einem schwierigen Thema das Wort ergriffen. Nach Heskys Eindruck liegt der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund bei den Neuinfizierten in Waiblingen „an manchen Tagen in der Größenordnung von 80 bis 90 Prozent“. Das ist deutlich mehr als der Anteil dieser Gruppe an der Gesamtbevölkerung.
„Eine Lücke im Gesundheitsschutz“
Andreas Hesky sagt das nicht einfach so, auch er weiß, dass er in der Sache keine amtliche Statistik vorlegen kann. Aber schon seit dem Frühjahr erhält er als Chef des Krisenstabs routinemäßig und tagesaktuell alle Infektionsfälle in Waiblingen und hat deshalb einen guten Überblick. „Mir geht es darum, die Menschen zu erreichen, die wir mit unseren bisherigen Infokampagnen wohl noch nicht erreicht haben“, sagt Hesky. Jetzt hat er die Sorge, dass der Gesundheitsschutz eine Lücke hat. „Ich bin überzeugt, dass es hier ein Informationsdefizit gibt“, erklärt der Waiblinger OB. Davor dürfe man nicht die Augen verschließen. Es müsse gelingen, in allen gesellschaftlichen Gruppen „eine Verhaltensänderung zu erreichen“. Und so hat Andreas Hesky nochmals einen Anlauf genommen und die örtlichen Migrantenvereine für den Infektionsschutz sensibilisiert.
Mit dieser Haltung steht der Waiblinger OB nicht alleine. Auch der Esslinger Landrat Heinz Eininger (CDU) hat unlängst die Bürgermeister und Integrationsbeauftragten der Kommunen in dem Landkreis angeschrieben, sie mögen ausländische Kulturvereine, Religionsgemeinschaften und Sportvereine nochmals auf das Thema Infektionsschutz aufmerksam machen. Auch bei Heinz Einiger war dies getrieben von dem Eindruck, das Coronavirus breite sich in Migrantenmilieus überproportional aus. Eininger: „Das hat uns Sorgen bereitet. Es ging uns um eine bessere Erreichbarkeit.“
In Stuttgart sieht man die Sache anders
Nach den Sommerferien, als viele Reiserückkehrer insbesondere aus Ländern des Balkans und der Türkei positiv auf das Coronavirus getestet wurden, habe der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund unter den Neuinfizierten „bei bis zu 75 Prozent gelegen“, so Eininger. Anfang Oktober riss der Landkreis als erster im Land die Inzidenzmarke von 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen. Ein Schwerpunkt des Geschehens: das DHL-Frachtzentrum in Köngen. Von den rund 500 dort beschäftigten Personen seien etwa 80 Prozent Migranten, weiß Heinz Eininger, darunter viele Geflüchtete. Auch in den Wochen danach blieb der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund an den Neuinfizierten im Landkreis bei geschätzten 60 Prozent, selbst Anfang November habe er noch bei etwa der Hälfte aller Neuinfektionen gelegen. Der Bevölkerungsanteil dieser Gruppe beträgt im Landkreis etwa ein Drittel. Deshalb sagt auch der Esslinger Landrat: „Wir müssen noch mal darüber nachdenken, wie wir diese Gruppen besser erreichen.“
In der Landeshauptstadt will man von derlei Deutungen nicht viel wissen. Nicht dass es nach den Sommerferien hier nicht auch viele Migranten unter den Neuinfizierten gegeben hätte, die aus dem Urlaub in ihren Heimatländer zurückkamen. Aus Krankenhäusern hörte man von einem sehr hohen Anteil dieser gesellschaftlichen Gruppe unter den positiv Getesteten. Von einem „mindestens überproportionalen“ Prozentsatz war einmal die Rede, punktuell wurden Zahlen genannt in der Größenordnung, wie sie Waiblingens OB Andreas Hesky derzeit ins Gespräch bringt.
Kritik an der Art der Erhebung
Inzwischen, heißt es unisono, habe man in Stuttgart ein „diffuses“ Infektionsgeschehen. Zum Anstieg der Infektionszahlen trügen kleinere Corona-Ausbrüche „an Orten mit hoher Personendichte“ bei, erklärt die Stadt. Dazu zählten Alten- und Pflegeheime, Kindergärten, Schulen, Flüchtlingsunterkünfte und Wohnheime für ausländische Arbeiter. In diesen Fällen habe man „sehr schnell reagiert“, das weitere Infektionsgeschehen gestoppt. Man habe mehrsprachige Informationsblätter zum Thema Quarantäne und Hygiene für Menschen mit wenig Deutschkenntnissen verteilt. Schon Anfang April und im Oktober wurden Geflüchtete mit einem mehrsprachigen Kurzfilm über das Thema Infektionsschutz aufgeklärt.
Sozialbürgermeisterin Alexandra Sußmann (Grüne) betont, Aufgabe des Gesundheitsamtes sei, „Infektionsketten nachzuverfolgen, und nicht die Frage des Migrationshintergrundes“, schon gar nicht einfach anhand von Namen. Zum Infektionsgeschehen stellt die Sozialreferentin fest, dieses „spiegelt das Bild der Zusammensetzung der Bevölkerung in Stuttgart wider“. Knapp die Hälfte der Menschen hätten einen Migrationshintergrund. Sußmann: „Diese Gruppe ist genauso heterogen wie die Bevölkerung ohne Einwanderungsgeschichte.“