Die Zahl der Infektionen sinkt, aber Bund und Länder zögern mit Lockerungen für Großveranstaltungen. Forscher plädieren für Modellprojekte. Schlüssel seien gute Lüftung sowie Testen und Impfen.

Hannover - Sich vor der Bühne drängeln, in der Masse die Songs einer Band mitgrölen oder je nach Laune den Platz wechseln: Das wird nach Einschätzung von Wissenschaftlern bei Konzerten so bald nicht wieder in der Form möglich sein wie vor der Pandemie.

 

Dass die Ministerpräsidentenkonferenz am Donnerstag das Thema Großveranstaltungen vertagt hat, enttäuscht sowohl Veranstalter als auch Kulturfans. Erste Studien legen allerdings nahe, dass bei einem Konzert- oder Kinobesuch mit festen Sitzplätzen drinnen kaum eine Corona-Infektionsgefahr besteht, wenn bestimmte Auflagen eingehalten werden.

Testkonzert der NDR Radiophilharmonie

„Eine gute Lüftungsanlage ist das A und O“, sagt Wolfgang Schade. Der Physiker am Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut will mit seinen Experimenten wissenschaftliche Daten liefern und helfen, über Ansteckungsgefahren aufzuklären und Ängste zu nehmen. An diesem Tag untersucht er ein Testkonzert der NDR Radiophilharmonie. Im Publikum sitzen 130 Beschäftigte eines Gesundheitsunternehmens, die vollständig geimpft sind. Eigentlich hätten noch mehr Menschen kommen können - in Niedersachsen dürfen Konzert- und Theatersäle bei einer Sieben-Tages-Inzidenz unter 35 derzeit zu 50 Prozent besetzt werden. Der Große Sendesaal in Hannover hat 1200 Plätze.

Möglicherweise hält das schöne Wetter einige ab, eventuell sind es auch Berührungsängste nach mehr als 15 Monaten Pandemie. Schade hat aus Schaufensterpuppen Dummys gebaut, die das menschliche Atmen simulieren. Neben einem Dummy, der durch Schläuche Aerosole und CO2 ausstößt, sitzen zwei weitere Puppen, die „einatmen“. Die Forschenden messen die Verteilung der Aerosole im Nahfeld, rund um die Puppen sitzen die Zuhörenden im so genannten Schachbrettmuster. Jeder zweite Platz bleibt frei. Ein weiterer Dummy „atmet“ weiter entfernt auf dem Rang. Aerosole sind winzige Partikel in der Luft, die Sars-CoV-2 enthalten können. Sie gelten als einer der Hauptübertragungswege der Covid-19-Erreger.

Bei rund 40 Veranstaltungen gab es Experimente

Schade untersuchte bereits im November im Auftrag des Konzerthauses Dortmund die Aerosolverteilung im dortigen Saal - allerdings ohne Publikum. Bei einem kompletten Luftaustausch mit Außenluft alle 20 Minuten könne das Konzerthaus kein Superspreading-Event auslösen, war ein Ergebnis. Bei einer Anlage mit Frischluftzufuhr werden Aerosole demnach effektiv abtransportiert. Wenn keine Masken am Platz getragen werden, sollte der direkte Vorderplatz freigehalten werden, rät Schade. In schlecht belüfteten Räumen dagegen können sich Aerosole mit der Zeit anreichern, so dass es laut Robert Koch-Institut (RKI) gegebenenfalls nicht mehr ausreicht, den Mindestabstand von 1,50 Metern einzuhalten.

Er habe bereits bei rund 40 Veranstaltungen Experimente gemacht, berichtet der Physiker aus Goslar, zuletzt bei der Pokal-Endrunde der Handballer in Hamburg vor jeweils 2000 Zuschauern. Wenn Hallen voll besetzt seien, könne dies sogar einen positiven Effekt haben: „Die Wärme, die Menschen abstrahlen, unterstützt den Abtransport der Aerosole in Richtung Abzug der Lüftungsanlage.“ Dies wolle er genauer untersuchen.

Maßnahmen gegen Virus-Varianten

Wissenschaftler halten das Risiko, sich bei Großveranstaltungen anzustecken, bei der jetzigen Infektionslage generell für gering - besonders wenn Corona-Testungen vorab verpflichtend sind. Draußen stellten Festivals und Konzerte auch ohne feste Sitzplätze keine große Gefahr dar, sagt Aerosolforscher Gerhard Scheuch aus dem nordhessischen Gemünden. Drinnen müsse man jedoch eine sehr effektive Lüftung haben.

Angesichts neuer Virus-Varianten plädiert der Göttinger Physiker Eberhard Bodenschatz für das Tragen von Masken auch am Sitzplatz. Dann könne man Säle sogar mit mehr als der Hälfte der Besucher besetzen. „Bei den neuen Varianten hilft Lüftung leider weniger als bei den alten. Masken sind unschlagbar“, sagt der Direktor am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. In der direkten Nähe einer hochansteckenden Person liege die Ansteckungswahrscheinlichkeit bei der zuerst in Großbritannien aufgetretenen Alpha-Variante ohne Maske bereits nach wenigen Minuten bei 100 Prozent. „Was wirklich hilft, ist das Testen. Aus meiner Sicht schützen uns die vielen Tests im Moment.“

Anlass zur Hoffnung

Die Auswertung eines Test-Konzertes Ende März in Barcelona gibt Anlass zur Hoffnung. Die knapp 4600 Gäste hatten einen Schnelltest gemacht und FFP2-Masken getragen. Zudem wurde für eine starke Belüftung gesorgt. Wie die spanischen Behörden einen Monat später mitteilten, wurden in den Wochen nach dem Konzert nur sechs der Besucher positiv auf Corona getestet. In vier Fällen steckten sich die Betroffenen nachweislich nicht bei dem Konzert an.

Dass die Lüftung ein entscheidender Faktor ist, hatte bereits ein Konzert-Experiment mit Popstar Tim Bendzko im August ergeben. „Nach unserer Studie ist das Infektionsrisiko bei schlechter Belüftung bis zu 70 Mal größer“, sagt Studienleiter Stefan Moritz von der Universitätsmedizin Halle. Er empfiehlt weitere Modellprojekte zur Öffnung von Kultur- sowie Sportveranstaltungen für Zuschauer. „Wir müssen Schritt für Schritt gehen“, sagt Moritz. Die derzeit niedrigen Werte ermöglichten es, Konzepte zu testen.

Entscheidend werde sein, die 18- bis 40-Jährigen, die viele soziale Kontakte haben, in diesem Sommer zum Impfen zu motivieren, betont der Infektiologe. „Meine größte Sorge ist, dass sich in der jungen Generation weniger Menschen impfen lassen, wenn die Inzidenz runtergeht.“