Die Coronapandemie hat viele Menschen an ihre Grenzen gebracht. Aber was ist mit denen, die sowieso immer am Limit sind? Familien mit behinderten Kindern etwa hat kaum jemand auf dem Radar. Dabei ist ihr Lebensalltag auch ohne Corona fragil. Und seit Monaten aus den Fugen.

Karlsruhe - Es hat sie hart getroffen. Nicht nur die ständige Angst, dass ihre schwerst mehrfachbehinderte Tochter sich mit Corona infizieren könnte, treibt die Mutter der 28 Jahre alten Elisa um. Ein völlig aus den Fugen geratener Alltag wegen über Monate geschlossener Werkstatt und vieler ausgefallener Therapien hat sie und ihre Familie in den vergangenen Monaten zur Verzweiflung und an den Rand der völligen Erschöpfung gebracht. „Wir durften mit Elisa nicht mehr zum Reiten, ihr fehlte jegliche Struktur, sie war irgendwann nicht mehr ausgeglichen und stellte den Tag-Nacht-Rhythmus auf den Kopf“, erzählt Petra Nicklas. „Irgendwann gingen wir komplett am Stock.“

 

Nicklas, die auch Vorsitzendes des Ludwigsburger Vereins „Gemeinsam für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung“ ist, berichtet von vielen Eltern, die sich wegen der ausgefallenen Therapien noch mehr um ihre Kinder sorgen und in Isolation versinken. „Dass Autoaggressionen zugenommen haben oder Kinder wieder hospitalisieren - das habe ich überall gehört“, erzählt sie. Vieles - etwa die Rumpfkontrolle oder der Mundschluss - bedürfe regelmäßiger Übung mit Therapeuten.

In Pandemiezeiten sei dies phasenweise überhaupt nicht möglich und die motorischen aber auch geistigen Rückschritte der Betroffenen seien entsprechend. „Wenn die erworbene Fähigkeit einmal weg ist, dann braucht man ewig, sich das wieder draufzuschaffen“, sagt Nicklas. Von Eltern, die mit ihren behinderten Kindern über Wochen alleingelassen waren, bekomme sie inzwischen gespiegelt, „ich kriege das nicht mehr geregelt“.

Die Sorgen dieser Familien, die sich um ihre Kinder mit Behinderung kümmern oder sie an den Wochenenden betreuen, auch wenn sie erwachsen sind, haben auch während Corona nur wenige auf dem Schirm. „Wir haben am Anfang der Pandemie versucht, darauf aufmerksam zu machen“, sagte Lotte Habermann-Horstmeier, Neurophysiologin und Leiterin des Villingen-Institute of Public Health. „Das Echo war eher bescheiden.“

Auch Jutta Pagel-Steidl, Geschäftsführerin des baden-württembergischen Landesverbandes für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung (LVKM-BW), beklagt das. „Aus Gesprächen mit Familien, die hier anrufen und nachfragen, höre ich große Sorge“, erzählt sie. Ähnlich wie alte Menschen seien auch Menschen mit Behinderung viel vulnerabler in Bezug auf das Virus und viel angewiesener auf Betreuung als ein sogenannter Gesunder. „Manche gehen aus Sorge vor Ansteckung nicht nach draußen, geschweige denn zur Therapie. Bei anderen werden die Therapien abgesagt und die oft einzige Kontaktmöglichkeit nach draußen entfällt.“ Die Folge sind Einsamkeit und Isolation der Familien und der behinderten Menschen insgesamt. „Sie sind unsichtbar“, sagte Habermann-Horstmeier.

„Je stärker die Behinderung, desto stärker die Auswirkungen der Coronaeinschränkung auf die Betroffenen“, hat Thorsten Langer, Mitbetreuer einer Studie am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Freiburg, festgestellt. Dafür waren im Herbst 2020 in Zusammenarbeit mit dem Kindernetzwerk, dem Dachverband der Patientenvertretung im Kinder- und Jugendbereich, deutschlandweit mehr als 1600 Eltern gesunder und nicht gesunder Kinder befragt worden.

„Die Pandemie trifft in keiner Weise alle gleich“

Darin ging es auch um den Zugang zur medizinischen Versorgung: „Ganz viel war weggefallen“, berichtet Langer. Eltern seien teilweise selber zur Physiotherapie gegangen, um sich dort Übungen für ihre Kinder zuhause zeigen zu lassen. Während der ersten Welle seien viele Angebote zur Frühförderung schlicht geschlossen und die Pflegedienstversorgung eingeschränkt gewesen. „Wir sahen eine deutliche Kurve nach oben in der Belastung von gesunden hin zu chronisch kranken und von dort zu komplex chronisch kranken Kindern“, resümiert er.

Außerdem sei der psychische Stress der Eltern mit behinderten oder chronisch kranken Kindern viel höher, etwa wenn die (Förder-)Schulen geschlossen werden. „Denn für diese Familien ist Schule sehr viel mehr als nur ein Bildungsinstrument: Sie bedeutet dringend notwendige Entlastung für den Alltag.“

Annette Mund, Vorsitzende des Kindernetzwerkes, betont: „Was für gesunde Kinder und Jugendliche gilt, insbesondere was die psychische Belastung angeht, gilt umso mehr für beeinträchtigte Kinder und Jugendliche.“ Insgesamt wisse man: „Je jünger das Kind, desto ungünstiger ist dies für die gesamte Entwicklung, wenn Therapie- und Fördermaßnahmen ausfallen.“ Die Langfristfolgen seien noch gar nicht abzuschätzen.

„Elisa hat der Wegfall von Außenkontakten viel genommen“, sagt Nicklas. „Es hat ihre Welt deutlich ärmer gemacht und dazu geführt, dass ihre Bewegungsunruhe deutlich gesteigert wurde, Krampfanfälle öfter auftraten, das körperliche Wohlbefinden deutlich abgenommen hat.“ Aus ihrer Sicht hat die Pandemie die Situation von Menschen, die vollkommen auf Unterstützung angewiesen sind, deutlich verschlechtert und die Schwachstellen der Gesellschaft offengelegt.

„Die Pandemie trifft in keiner Weise alle gleich. Sondern sie trifft kranke Kinder beziehungsweise Familien mit kranken oder behinderten Kindern ganz besonders“, sagt auch Langer und blickt mit Sorge auf die schlechte Datenlage dazu. Die Menschen seien wegen ihrer Belastung oft nicht in der Lage Gesundheits- und Lobbypolitik zu mache. „Es gibt zu wenige Studien für diese Familien und zuwenig Gelder dafür.“