Als Jugendlicher wusste der Argentinier Franco Fagioli nicht, was ein Countertenor ist. Heute ist er selbst einer der besten Sänger mit hoher Stimme. Jetzt ist er den Händel-Festspielen in Karlsruhe zu Gast.

Karlsruhe - Man umschlingt sich, umstrickt sich, umgarnt sich. Es geht um Liebe, Macht, Eifersucht, Rache, Leidenschaft, Mord und Totschlag. Der Barockoper ist nichts Menschliches fremd, aber die Mittel, mit denen sie dieses Menschliche ausdrückt, wirken fast unmenschlich: Schier endlose Tonketten müssen die Sänger auf der Bühne liefern, und wenn sie die zwei Teile ihrer langen Arien bewältigt haben, geht das Ganze obendrein noch einmal von vorne los. Es ist eines der Wunder der großen Gefühlsmaschine Oper, dass man als Zuhörer selbst der Künstlichkeit hochvirtuosen Singens Glauben schenkt. Die Gefühle müssen nur wahrhaftig sein und die Sänger gut, die Charaktere glaubhaft.

 

Zu jenen, die in Barockopernbesonders gut, glaubhaft und hochemotional agieren, gehört seit gut einem Jahrzehnt ein Mann, dessen Geschichte fast so märchenhaft ist wie die Handlung eines alten Stücks Musiktheater. Franco Fagioli kommt aus der tiefsten argentinischen Provinz; als Jugendlicher hat er gerne hohe Töne gesungen, auch über den Stimmbruch hinaus, wusste aber gar nicht, dass man so etwas professionell betreiben kann und dass es ein Stimmfach gibt, das Countertenor oder auch Altus heißt. Fagiolis Weg von Tucumán über das Opernstudio im 1200 Kilometer entfernten Buenos Aires („Da war ich der erste Countertenor in der Geschichte des Hauses“) bis nach Europa war gewunden und zuweilen gar wunderlich – nicht nur, weil seine Lehrer eine Sopranistin und ein Bariton gewesen sind. 2003 hat er den renommierten Bertelsmann-Wettbewerb gewonnen, dann in Karlsruhe bei den Händel-Festspielen den Giulio Cesare in Händels gleichnamiger Oper gesungen. Wenig später war er Händels Teseo an der Oper Stuttgart, und dann ging alles ganz schnell. Wenn der heute 37-Jährige jetzt als Xerxes zu den Händel-Festspielen nach Karlsruhe zurückkehrt, dann kommt er nicht als No-Name, sondern als Star.

Deshalb wirkt es auch nicht zufällig, dass die Deutsche Grammophon jetzt seinem Festival-Auftritt eine CD-Einspielung des „Serse“ vorausgeschickt hat. Auf ihr hört man den Countertenor genau so, wie man ihn kennt und liebt: als hochvirtuosen Sänger mit einer Falsettlage zwischen Sopran und Alt, der aber gerne auch mal große Wirkung mit eingestreuten baritonalen Tönen erzielt.

Franco Fagiolis Stimmumfang reicht über drei Oktaven

Über drei Oktaven reicht heute der Stimmumfang des Sängers. Außerdem hört man sehr gut, wie stark Cecilia Bartoli den Countertenor beeinflusst: Frappierend nah sind sich die Timbres der beiden Sänger – das leicht Gutturale, manchmal auch Gaumig-Kehlige. Und vergleichbar ist auch die exzellente Technik der beiden Sänger, die makellos glitzernde Koloraturen, also lange Phrasen voller schneller, verzierter Noten, möglich macht. Das nämlich brauchen die Hochseilartisten der Barockoper vor allem, um zu glänzen, und es hilft Fagioli sehr, dass seine Lehrer ihn über das Belcanto-Repertoire des frühen 19. Jahrhunderts (also mit Arien von Donizetti, Bellini und Rossini) zu Händel & Co. geführt haben. Zu diesem Umweg ist der Countertenor vor Kurzem via CD zurückgekommen: Da hat er Hosenrollen aus Opern Rossinis gesungen, also männliche Partien, die der Komponist mit Mezzosopranistinnen besetzte, weil es damals keine Kastraten mehr gab. Ein Countertenor, beweist Franco Fagioli hier, kann alles, sogar Belcanto.

So singt er nun auf der CD-Einspielung von „Serse“ eine der berühmtesten Arien Händels, das „Ombra mai fù“. Und so wird er auch bei den Händel-Festspielen Karlsruhe von diesem Freitag an den Titelhelden Xerxes in der Inszenierung seines Counter-Kollegen Max Emanuel Cencic als melancholischen Herrscher vorstellen, der versunken das Loblied einer Platane singt. Es ist eine extrem kurze Arie, bei der sich die Stimme des Sängers wie eine instrumentale Klangfarbe ganz leise, fast unhörbar, in die Orchestereinleitung hineinschleicht und am Ende ganz ohne jedes Spektakel endet – eine Arie ohne Mittelteil und Wiederholung mit einer nur scheinbar einfachen Melodie. Ein schlichtes Lied, dessen Gefühlsgehalt schon deshalb so stark und authentisch wirkt, weil es immer wieder sein formales Gerüst verlässt.

Besser als mit „Ombra mai fù“ ließe sich nicht beschreiben, was Franco Fagioli besonders macht. So wie er diese Arie singt – ganz versunken, vertieft, ohne alles aufgesetzte Zierwerk, ohne Pose, ohne Show, mit Hingabe konzentriert auf die Geradheit der Linie –, macht er das scheinbar Kleine ganz groß: dadurch, dass er es ernst nimmt. Der Virtuose als Gestalter: Wer ihn erlebt, mag sich anfangs noch wehren – nach spätestens einer halben Stunde Händel mit Fagioli aber ist er wehrlos, hin und weg.