Ursula Männle sollte noch oft auf Unverständnis wie in diesem Fall treffen. 1985, das war die große Zeit des Prostitutionstourismus nach Thailand. Männer aus der ganzen Welt flogen in das asiatische Land. Da beschließen drei Frauen aus der deutschen Politik, die Bundestagsabgeordnete Ursula Männle (CSU), die EU-Politikerin Doris Pack (CDU) und die spätere Bundesfamilienministerin Hannelore Rönsch (CDU), sich das Bangkoker Nachtleben einmal selbst anzusehen. Der deutsche Botschafter, den sie kontaktieren, kann gar nicht glauben, was die drei Politikerinnen von ihm wollen. Er solle ihnen mal ein paar Bordelle zusammenstellen. „Wollen Sie nicht lieber die Schönheiten des Landes anschauen?“, erinnert sich Männle an die Reaktion des verblüfften Diplomaten.
Armut als Ursache
Das wollten die drei nicht. „Wir sind in die Bordelle gegangen, haben die Frauen sogar bezahlt, damit sie Zeit hatten, mit uns zu sprechen“, erzählt Männle. Sie waren in Häusern, in denen die Prostituierten Nummern trugen und die Farbe ihrer Kleider verriet, welche sexuellen Dienstleistung die Kunden bei ihnen bekommen würden. „Dieser Fleischhandel hat sich mir eingeprägt“, erinnert sich Männle. Sie bekamen die stets gleiche Antwort, wenn sie fragten, warum die Frauen hier arbeiteten: aus wirtschaftlicher Not.
Damals sei Prostitution noch ein Wort gewesen, das man als Dame nicht in den Mund nahm. So versuchte man, sich das Thema vom Hals zu halten. Die Rechnung ging aber nicht auf. „Ich habe gelernt, über vieles zu sprechen, was mir früher nicht über die Lippen gekommen wäre“, sagt Männle, die von ihren katholischen Eltern einst in eine Klosterschule geschickt wurde. Aber sie gaben ihr auch die Lebenseinstellung mit: Du musst handeln, auch wenn es für dich negative Konsequenzen hat.
Was Armut bedeutet, hat Männle in ihrer Schulzeit am eigenen Leib erfahren. Als ihr Vater arbeitslos wurde, erlebte sie das als sozialen Absturz. Sie trug einen umgearbeiteten Mantel des Vaters und konnte in die ärmlichen Verhältnisse keine ihrer Freundinnen einladen. Dass sie später in die CSU – „Ich gehörte immer zum linken Flügel“ – und nicht in die SPD eintrat, lag an ihrer katholischen Sozialisation.
Reisen nach Osteuropa
Seit Jahrzehnten engagiert sie sich jetzt im Kampf gegen Frauenhandel. Auslandsreisen kann sie sich mittlerweile sparen. Ihre Heimat Deutschland gilt als Bordell Europas. Die Frauen, die hier als Prostituierte arbeiten, kommen in der Mehrzahl aus Südosteuropa. Als Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung ist Männle immer wieder in die Länder Osteuropas gefahren, in denen junge Frauen für einen vermeintlich lukrativen Job jenseits der Prostitution in Deutschland angeworben werden. Sie hat dort Aufklärungsseminare für die Polizei und die Sicherheitsbehörden initiiert. Das Schmuddelwort hat sie noch immer nicht aus ihrem Vokabular gestrichen. Schließlich funktioniert das Geschäft, das fast ausschließlich auf der wirtschaftlichen Not von Frauen fußt, noch immer – und wurde durch das Prostitutionsgesetz von 2002 erst legalisiert.
Im cremeweißen Kleid, mit braunem Jäckchen, farblich abgestimmter Kette und akkurat frisierten Haaren: Wenn man so will, sehr damenhaft sitzt Ursula Männle auf einer Münchner Terrasse. Eine Frau und Politikerin, die vielen Männern zeitlebens nicht ganz geheuer war, weil sie sich mit ihren frauenpolitischen Anliegen nicht einhegen ließ.
Vielleicht hätte ihr die Nonne in der Münchner Klosterschule nicht sagen sollen: „Ursula, Politik ist nichts für Mädchen.“ Männle, die sich selbst einen „Jetzt-erst-recht-Wesenszug“ attestiert, tat genau das Gegenteil und studierte Soziologie und Politikwissenschaften. Sie war Vorsitzende der CSU-Frauenunion, CSU-Präsidiumsmitglied, Bundestagsabgeordnete, Staatsministerin und Landtagsabgeordnete in Bayern, Professorin an der katholischen Stiftungsfachhochschule München und lange Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung.
Frauenbündnisse sind wichtig
Sie ist heute nicht minder entschlossen als vor fast 40 Jahren, etwas zu tun gegen Menschenhandel. „Was mich immer gestört hat“, sagt sie, „sind Ungerechtigkeiten.“ Wenig überraschend, dass sie mit Frauen anderer politischer Couleur – Waltraud Schoppe (Grüne), Renate Schmidt (SPD), Rita Süssmuth (CDU) oder Helga Schuchardt (FDP) – in dem Dokumentarfilm „Die Unbeugsamen“ als Kronzeugin dafür aufgetreten ist, dass Frauen in der Politik für relevante Themen einen langen Atem brauchen. Bei der Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe etwa. Dabei hat die CSU-Frau auch verinnerlicht, dass man dafür Bündnisse schmieden muss.
Deshalb hat sie vor ein paar Wochen einen Verein gegründet, der für eine Gesellschaft frei von Menschenhandel und sexualisierter Gewalt kämpft. Zum Verein gehören mit Helmut Sporer und Manfred Paulus zwei ehemalige Kriminalbeamte, die lange im Rotlichtmilieu und zum Menschenhandel ermittelt haben. Der eine in Augsburg, der andere in Ulm. Die Juristin Sandra Norak ist dabei, die als Teenager durch die Loverboymethode in die Prostitution gezwungen wurde, sich heute als Überlebende bezeichnet und inzwischen offen von der traumatisierenden Brutalität des Rotlichts erzählt. Ebenso Marietta Hageney, die sich bei der internationalen Menschenrechts- und Frauenhilfsorganisation Solwodi engagiert und unter anderem von Aalen aus das Ostalb-Bündnis gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution mit dem Landrat und den drei Oberbürgermeistern geschmiedet hat. Und Inge Bell, Menschenrechtsaktivistin und stellvertretende Vorsitzende von Terre des femmes. Menschen mit ausgewiesener Expertise also, die bei der OSZE und im Bundestag gehört werden und in der praktischen Ausstiegsberatung und in der Polizeiausbildung tätig sind. Es ist zu erwarten, dass ihr Verein, der sich den etwas sperrigen Namen Deutsches Institut für angewandte Kriminalitätsanalyse (DIAKA) gegeben hat, Gegenwind bekommen wird. Auch aus der Lobby des Prostitutionsgewerbes. Auf 13,6 Milliarden Euro schätzt das Statistische Bundesamt den Umsatz der Branche. In etwa so viel wie in der Textilindustrie.
Welche Rolle spielen die Freier?
Der Verein will der Prostitution in Deutschland den Garaus machen. Oder zumindest mit so viel Information und Aufklärung bereit stehen, dass die Politik die Realität in den Bordellen nach Einführung des liberalsten Prostitutionsgesetzes Europas besser einschätzen kann. Momentan beginnt die bundesweite Evaluierung der bestehenden Gesetzeslage. „Das Rotlichtmilieu ist ohne Kriminalität, Gewalt, Ausbeutung und Drogen gar nicht zu denken“, sagt Helmut Sporer.
Der Verein fordert deshalb einen neuen deutschen Weg in der Prostitutionspolitik. Der Blick soll auf die Nachfrage, also die Freier, gehen. Sie sollen bestraft werden und nicht die Frauen. Prostituierte sollen Ausstiegshilfen bekommen, besser noch soll der Einstieg in die Prostitution verhindert werden. Bestärkt fühlen sich die Vereinsmitglieder durch die Gesetzeslage in Frankreich, Schweden, Norwegen, Island,Israel, Kanada und bald auch in Spanien, wo Sexkauf verboten ist. Und durch die Europäische Kommission, die den verstärkten Kampf gegen Menschenhandel fordert, dessen Opfer in erster Linie Frauen und Kinder sind, die zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung verschleppt werden.
Der Widerspruchsgeist trägt
Wie lange das noch dauern wird? Wer wie Ursula Männle während eines Luftangriffs in einem Ludwigshafener Bombenkeller auf die Welt gekommen ist, lernt vermutlich schon früh, dass das Leben viele Hindernisse bereit hält. Vielleicht macht ein solcher Start ins Leben ja stark. „Ich glaube, ich habe einen natürlichen Widerspruchsgeist“, sagt die 78-Jährige. Der und ihr langer Atem könnten ihr nun von Nutzen sein. „Meine Mutter ist 93 Jahre alt geworden. Meine Tante 102“, sagt sie sehr zuversichtlich. „Ich glaube schon, dass ich das noch erleben werde.“