„Das weiße Kaninchen“ ist ein hochklassiges Thrillerdrama über „Cyber-Grooming“ – die verschleierte Kontaktaufnahme mit Minderjährigen im Netz mit dem Ziel des sexuellen Missbrauchs.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Schoko und Vanille. Die beiden Eissorten mag Simon Keller am liebsten, verrät er Sara. „Das ist wie Dunkelheit und Licht zusammen.“ Das Eis hat die Dreizehnjährige dem Lehrer spendiert, der ihr aus einer schlimmen Patsche geholfen hat. So zumindest sieht es für Sara aus.

 

Dunkelheit und Licht – das ist das zentrale Motiv des ARD-Dramas „Das weiße Kaninchen“, das sich mit Cyber-Grooming befasst - und dabei alles andere als ein didaktischer Themenfilm ist. Unter Cyber-Grooming (grooming – anbahnen, vorbereiten) versteht man die verschleierte Kontaktaufnahme mit Minderjährigen im Internet mit dem Ziel des sexuellen Missbrauchs. Nicht nur das Netz, auch Simon Keller – bravourös: Devid Striesow - hat lichte wie auch abgrundschwarze Seiten. In der subtil-schaurigen und offen gehaltenen Schlussszene setzt die Kamera die Metapher explizit ein, wenn zuerst ein Schatten das Gesicht des monologisierenden Täters verdunkelt, um es dann kurz darauf in Licht zu tauchen.

Diese Ambivalenz prägt die zentrale Figur ebenso wie Bildsprache und Ästhetik des Films – die Preise für den Regisseur und Ludwigsburger Filmakademie-Absolventen Florian Schwarz („Tatort: Im Schmerz geboren“) und die Drehbuchautoren Michael Proehl und Hans Karsten Schmidt, zusammen mit ihrem Kameramann Philipp Sichler, dürften nicht lange auf sich warten lassen.

Ein pädophiler Lehrer, der in der Sporthalle masturbiert

Simon Keller ist ein liebevoller, moderner Familienvater, ein engagierter Lehrer, der sich der medienpädagogischen Aufklärung der Schüler verschrieben hat. „Ich will das Internet nicht verdammen. Ich will euch nur bewusst machen, dass dort Jäger unterwegs sind.“ Genauso ein Jäger ist er aber in Wahrheit auch selbst. Denn er nutzt das Netz, um sich das Vertrauen von Mädchen zu erschleichen, indem er sich in Online-Foren als siebzehnjähriger Benny ausgibt. Und wenn ihn der pädophile Trieb überkommt, masturbiert er in einem Nebenraum in der Sporthalle und stiert dabei auf turnende Schülerinnen.

Auch Sara, die Lena Urzendowsky in ihrer ersten Filmrolle überzeugend verkörpert, hat Simon Keller zunächst als Benny kennen gelernt, im Netz, wohin sich das schüchterne Einzelkind aus gutem Haus häufig flüchtet, weil es ihm dort viel leichter fällt, Kontakte zu knüpfen. Dem verständnisvollen Benny vertraut Sara an, dass sie von ihrem neuen Internet-Schwarm Kevin (Louis Hofmann) mit einem freizügigen Foto erpresst wird, das er ihr abgerungen hat. Und dieser Benny, der ein weißes Kaninchen als Avatar benutzt, in Anlehnung an „Alice im Wunderland“, wo das putzige Tier in eine Traumwelt führt, dieser Benny kennt zufällig einen medienkompetenten Vertrauenslehrer, der Sara bestimmt helfen kann: Simon Keller...

Ein perfides Spiel mit den Identitäten, in denen sich die Fallen des Internets spiegeln. Striesow ist die perfekte Besetzung für diese doppelgesichtige Figur: ein „good guy“ zum Pferdestehlen, mit wohlmeinender Aufrichtigkeit in den blauen Augen. Doch schon im nächsten Moment liegen Kälte und Triebhaftigkeit in diesem Blick.

Das Netz wird nicht verteufelt

Auf Gewissheiten und Eindeutigkeiten verzichten die Filmemacher auch bei der filmisch schwierigen Darstellung der virtuellen Begegnungen im Internet. Das Netzt wird nicht platt verteufelt, stattdessen gelingt es, die Faszination des Mediums in ein treffendes filmästhetisches Arrangement zu übersetzen - was, neben Drehbuch und Figurenzeichnung, die herausragende Qualität des TV-Dramas ausmacht. Die virtuelle Welt ist für die Jugendlichen Heimat, hier treffen sie Freunde, leben ihre Träume, fühlen sich geborgen. Wenn Sara und Benny sich im Chat begegnen, lässt Florian Schwarz sie in einer wohligen Traumwelt schweben. Vor funkelndem Nachthimmel sprechen sie ihren Chat-Dialog von Angesicht zu Angesicht, während die Tastatur verheißungsvoll säuselt, gleichzeitig trennt sie eine Scheibe, auf der ihr Dialog schriftlich erscheint. Und mit Kevin entschwindet Sara in ein virtuelles „Cat-Bistro“, wo sie, mit Katzenmasken verfremdet, Milch aus Strohhalmen trinken. Bonbonbunt, fantastisch, unheimlich. So vermittelt sich die Nähe im Netz und gleichzeitig dessen Anonymität.

In der zweiten Hälfte wendet sich das Cyber-Drama zum Thriller. Die Polizei kommt in jenem dramatischen Moment ins Spiel, in der Keller Kevin, nachdem dieser Sara zum Oralsex gezwungen hat, stellt und als Kinderporno-Händler entlarvt. Keller kann seine perfekte Tarnung als helfender Lehrer aufrechterhalten und schafft es, nicht nur Sara, sondern auch die Polizei hinters Licht zu führen.

Die Fassade bleibt clean und hell, dahinter tobt das Chaos

Doch einer der Kommissare (Shenja Lacher) traut ihm nicht und stellt durch einen Spruch, den Keller im Chat mit Sara benutzte, eine Verbindung zu einem bislang nicht aufgeklärten Mädchenmord her. Wie der Ermittler den Lehrer mit seinem Verdacht konfrontiert, ist eine der gespenstischsten, weil grandios komponierten Szenen des Films: Striesows Keller sitzt in weißem Saubermann-Hemd in seinem gläsernen Einfamilienhaus, während der Kommissar ihm auf den Kopf zusagt, dass er ihn für einen pädophilen Mörder hält. Kellers Fassade bleibt hell und clean wie sein Wohnzimmer. Der Zuschauer sieht dennoch all das, was ihm die Kamera nicht zeigt: den zerstörerischen Trieb, das Chaos der multiplen Persönlichkeiten, die Berechnung, die Konzentration, die es erfordert, um all dies in Schach zu halten.

Florian Schwarz hat mit seinem mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten Western-Shakespeare-„Tatort: Im Schmerz geboren“ eine Landmarke gesetzt. Mit dem „Weißen Kaninchen“, das fortan in einem Atemzug mit dem herausragenden Cyber-Mobbing-Drama „Homevideo“ genannt werden wird, kommt eine weitere hinzu.

Themenabend in der ARD

Themenabend: Die ARD zeigt den Fernsehfilm „Das weiße Kaninchen“ am Mittwoch, 28. September, um 20.15 Uhr. Im Anschluss (21.45 Uhr) diskutiert Sandra Maischberger über das Thema „Tatort Internet: Ein Spielplatz für Sexualverbrecher?“ Ihr Gäste sind eine Mutter, deren Tochter nach Cyber-Grooming verschwunden ist, das Erpressungsopfer Arne Völker, der Kriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger, die Jugendschutzexpertin Beate Krafft-Schoning sowie die TV-Moderatorin Yvonne Willicks.

Regisseur: Florian Schwarz, Jahrgang 1974, studierte Szenische Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Für sein Regiedebüt „Katze im Sack“ wurde er 2005 mit dem First-Steps-Filmpreis ausgezeichnet. Sein bislang erfolgreichster Film war die „Tatort“-Episode „Im Schmerz geboren“.