Martin Frost ist ein freier Mann auf Widerruf. Der 32-Jährige muss ins Gefängnis. Das Urteil: sieben Jahre und neun Monate. Doch er hofft, dass es weniger wird. Der gelernte Elektroniker für Betriebstechnik aus dem Großraum Stuttgart hat Revision einlegen lassen gegen sein Urteil. Mit zwei Komplizen hat er im dunklen Teil des Internets, dem Darknet, einen der größten Marktplätze betrieben: Wall Street Market. „The One“ hieß er dort. Sie flogen auf, zum ersten Mal trafen sich die Drahtzieher vor Gericht – bis dahin nur online. Wie wird man zum kriminellen Großunternehmer im Netz? „Es ist so einfach – und fühlt sich auch nicht so kriminell an“, sagt er über seine Geschichte. Schließlich sitze man ja nur gemütlich zu Hause am Rechner.
Ein Neugieriger am Rechner sei er schon immer gerne gewesen, sagt der muskelbepackte Mann mit den düsteren Tattoos auf dem Arm und dem harmlos-sanften Blick. Es war mehr die Neugier denn die kriminelle Energie, die ihn tiefer und tiefer in die virtuelle Welt eintauchen ließ. Forscherdrang, falsche Online-Freunde und schnelles Geld – so wurde er zum weltweit gesuchten Kriminellen. Im Netz lernte er seine Komplizen kennen. Sie schauten sich in der virtuellen Welt um, wo es schon ähnliche Plattformen gab, und meinten: Das können wir besser. So entstand Wall Street Market.
Das Darknet ist ein Umschlagplatz für so ziemlich alles, was verboten ist: Falsche Pässe, Drogen, Schadsoftware, Waffen und sogar Auftragskiller soll man dort bekommen. Die Ersteller des Marktplatzes – wie zum Beispiel Wall Street Market von Martin Frost und seinen Komplizen – stellen die Handelsplattform zur Verfügung. Sie leben von Provisionen, die sie für die auf ihrem Marktplatz getätigten Transaktionen erhalten. Im Prinzip wie auf einer legalen Plattform, nur eben im Darknet und mit kriminellem Inhalt. Und sie leben davon nicht schlecht.
„Ich muss ins Gefängnis. Und das ist richtig so“, sagt Frost mit bewundernswerter Gelassenheit. Er hofft auf ein milderes Urteil in der Revision. Straffreiheit aber will er nicht. „Ich kann mir nur vorstellen, wie wütend eine Mutter sein muss, deren Kind aufgrund unserer Geschäfte an Drogen kam“, sagt er. Martin Frost ist selbst Vater.
„Klar habe ich nie jemandem Drogen verkauft. Aber ich habe es ermöglicht“, sagt Frost im Rückblick. Ruhig, mit Humor und Selbstironie, aber nie unreflektiert erzählt er. Er zieht aus den Erfahrungen, die er gemacht hat, den Schluss, dass er anderen helfen muss. Zum einen denen, die sich vielleicht verlocken lassen würden vom großen Geld, zum anderen den potenziellen Opfern von Betrügereien im Netz: Martin Frost ist unterwegs in Sachen Prävention, spricht zum Beispiel vor Schulklassen.
Drei Jahre lang lief das Geschäft. Bis zur Entdeckung 2019 machten Martin und seine Kollegen richtig Kohle. Das Geld habe er sich nicht so anmerken lassen, auch sei seine Partnerin nicht empfänglich gewesen für Luxus: „Wir waren mal einkaufen, ihr gefiel eine Jacke für ein paar Hundert Euro. Ich wollte sie ihr kaufen, aber sie hat sich gewehrt und es völlig abgelehnt, so viel Geld für Klamotten auszugeben.“ Ein dickes Auto, einen Mercedes-AMG, das habe er sich schon geleistet.
Mit diesem Wagen fuhr er eines Abends nach dem Training heim. Die Polizei wartete bereits. Eben wunderte er sich noch, warum vor ihm ein Wagen auf der Schräge der Tiefgaragenabfahrt stand, der plötzlich rückwärts fuhr. „Dann wurde es hell, sie haben mich schon aus dem Auto gezogen, und ich hatte ein Knie im Kreuz“, erzählt er. „Das hätten sie sich sparen können. Ich wäre schon auch mitgekommen, wenn die Polizei einfach an der Tür geklingelt hätte. Aber das kann man ja nicht ahnen.“
Die Revision liegt noch beim Bundesgerichtshof. Untreue und bandenmäßiger Drogenhandel wurden ihm angelastet bei der Gerichtsverhandlung. Es sei ein Stück weit juristisches Neuland gewesen, wie der Betrieb einer solchen Plattform im Darknet zu beurteilen sei.
Bevor er den Heimweg antritt, macht Frost nach dem Gespräch noch ein paar Selfies. Er wird posten, dass er in Stuttgart war. „Aber erst, wenn ich wieder weg bin.“ Am Schluss haben zwei der drei Betreiber des Wall Street Market – einer war schon weg – einen Exit Scam betrieben. Sie haben noch Geld eingenommen, aber nicht mehr weitergegeben, wollten aussteigen. So macht man sich auch Feinde.
Dass ihnen die Ermittelnden – BKA und FBI – schon im Nacken saßen, im Netz und physisch auf ihren Servern Zugriff auf die Plattform hatten, ahnten sie da noch nicht.
Martin Frost hofft, in der Revision zu erreichen, dass er nur Beihilfe für den Drogenhandel geleistet habe. „Ich glaube, man wollte mit dem Urteil auch ein Exempel statuieren.“ Gleichwohl weiß er: „Es hat sich nicht so kriminell angefühlt. Aber: Ich weiß um die Schattenseiten. Zum Beispiel starben irgendwo in Südamerika Menschen für die Produktion der Drogen.“ Auch das nimmt Martin Frost in Gedanken mit, wenn er seine Haftstrafe eines Tages antritt.
Darknet
Als Darknet bezeichnet man einen verschlüsselten Teil des Internets. Man kann sich dort anonym bewegen. Der Zugang erfolgt zum Beispiel über den TOR-Browser. Es gilt als Tummelplatz für Kriminelle, weil man unerkannt agieren kann. Aber auch Whistleblower nutzen diese oft „dunkle Seite des Internets“ genannte Möglichkeit, um Informationen unentdeckt weitergeben zu können.
Martin Frost
Als Teenager bringt sich Martin das Programmieren bei, taucht tiefer und tiefer ins Netz ein. Mit 26 gründet er gemeinsam mit zwei Komplizen die Plattform Wall Street Market. 2021 wird er zu einer Haftstrafe verurteilt. Seinen Werdegang hat er in dem Buch „Out of the Dark“ aufgeschrieben.