Der Deutsche Richterbund debattiert in Stuttgart über die juristischen Tücken des Internets – und das Know-How, um mit ihnen zurechtzukommen. Brauchen die Gerichte eine „Nerd-Kammer“ mit spezialisierten Richtern?

Stuttgart - Dass Politik und Justiz den rasanten Entwicklungen der Informationstechnologie hinterherlaufen, ist ein vielzitierter Gemeinplatz. Datenschutz, Privatsphäre, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – juristisch bewährte Konstrukte erweisen sich im Zeitalter von Google, Facebook und Co als nicht mehr zeitgemäß. Das beschäftigt auch die Jurisdiktion. Am Montagabend kamen Richter und Staatsanwälte aus Baden-Württemberg ins Stuttgarter Haus der Wirtschaft, um über das Spannungsverhältnis von Recht und Internet zu sprechen. Eingeladen hatte der Deutsche Richterbund.

 

Matthias Grewe, der Vorsitzende des Vereins der Richter und Staatsanwälte in Baden-Württemberg, fragte einleitend: „Wie gut müssen wir in solchen Fragen sein, um überhaupt gute Gerichte zu sein?“ Seine Einleitung gipfelte in der Frage, ob die deutschen Gerichte nicht eine weitere spezialisierte Kammer wie beispielsweise für Handelssachen, nur jetzt eben für Online-Recht bräuchten – eine „Nerd-Kammer“, wie Grewe sie nannte.

Als erste Rednerin sprach sich Constanze Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Clubs und promovierte Informatikerin, gegen die anlasslose Speicherung von Daten aus. Die Enthüllungen von Edward Snowden hätten gezeigt, dass es neue digitale Überwachungsmöglichkeiten gebe – Stichwort Tempora und Prism – und dass die Geheimdienste weitgehend ohne parlamentarische Kontrolle agierten. Der Chaos Computer Club nutze jedoch den juristischen Weg der Klage gegen die Abhörpraktiken (siehe Infokasten). Da die Bundesregierung „nicht willens und in der Lage ist“, gegen den amerikanischen Geheimdienstapparat vorzugehen, „werden wir gar keine andere Wahl haben, als uns auf die Verschlüsselung und Anonymisierung zu stürzen“, sagte sie im Hinblick auf den Bürger.

Eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden

Bezogen auf die Jurisdiktion gab Kurz zu bedenken, dass einige rechtliche Aspekte in der Debatte kaum zur Sprache kämen. Zum Beispiel sollten die nationalen Bestimmungen zur Privatheit eine übergreifende völkerrechtliche Basis haben, ähnlich wie das Recht auf persönliche Freiheit bereits im 1966 ausgearbeiteten UN-Zivilpakt formuliert ist. Außerdem müsse man überlegen, ob die Unterscheidung zwischen In- und Ausländer bei Geheimdiensten mit dem Recht vereinbar sei. „Wir müssen die Debatte öffnen gegenüber dem nationalen Kleinklein“, sagte Kurz.

In der Diskussionsrunde ging es zunächst um die Vorratsdatenspeicherung. „Haben Sie keinen Durst nach Daten?“, fragte der Moderator und ARD-Rechtsexperte Frank Bräutigam den Präsidenten des Landeskriminalamts Baden-Württemberg, Dieter Schneider. Der relativierte: „Das hält sich in Grenzen.“ Aktuell litten die Behörden eher unter zu vielen Daten.

Cybercrime sei für alle Sicherheitsbehörden derzeit „die zentrale Herausforderung“, sagte Schneider. Die Entscheidungen von Bundesgerichtshof und Europäischem Gerichtshof gegen die deutsche Vorratsdatenspeicherung bezeichnete er als „Steine statt Brot“ für die Ermittlungen. Constanze Kurz entgegnete, dass Nützlichkeit keine juristische Kategorie sei, Verhältnismäßigkeit jedoch schon. Der auf IT-Recht spezialisierte Anwalt Felix Buchmann drückte sich diplomatisch aus: „Ich finde es im Grundsatz richtig, dass es die Möglichkeit zur Datenspeicherung gibt.“ Barbara Bertrang, die Präsidentin der Deutschen Telekom AG in Stuttgart, schlug sich auf Kurz’ Seite: Technische Probleme seien lösbar, relevanter sei aber die Grundrechtsfrage dahinter. Wie Kurz plädierte auch sie dafür, dass eine Schulung der Nutzer die beste Prävention sei.

Das Internet – ein rechtsfreier Raum?

Ein weiteres Thema war das im Google-Urteil des Europäischen Gerichtshofs formulierte „Recht auf Vergessenwerden“. Bertrang hielt es für bedenklich, da Personen damit auch einfach unliebsame Wahrheiten aus der Google-Suche verschwinden lassen können. „Das kann auch die Pressefreiheit einschränken“, sagte sie. Der IT-Anwalt Buchmann sprach aus Berufserfahrung: „Die Anträge gehen alle durch. Eine Prüfung findet nicht statt.“

Während der Diskussion offenbarten sich auch Defizite, was das IT-Wissen der Behörden angeht. Der LKA-Chef Schneider erläuterte, dass seine Behörde hier gerade dabei sei, Know-How aufzubauen. Hierzu gebe es Kooperationen mit Sicherheitsdienstleistern im IT-Gewerbe und mit dem Branchenverband Bitkom. Der IT-Anwalt Felix Buchmann gab wiederum zu: „Ich versuche, alle Sachverhalte, die technisch komplex sind, von Gerichten fernzuhalten.“ Oft fehle es dort an der nötigen IT-Kompetenz, so dass Cybercrime-Verfahren gelegentlich aufgeschoben würden. Auch er sprach sich für eine spezialisierte Kammer für IT-Verfahren aus.

Zuletzt beantworteten die Diskutanten die Frage, ob sich ihrer Meinung nach das Recht im Internet durchsetzen werde, wie es das auch einst im Wilden Westen getan hat. Der LKA-Präsident Schneider zeigte sich eher vom Gegenteil überzeugt. „Wir werden mehr und mehr rechtsfreie Räume bekommen“, sagte er und plädierte für mehr Eingriffsmöglichkeiten der Behörden. Barbara Bertrang legte den Fokus auf die Medienkompetenz der Bürger, die lernen müssten, wie sie Herr über ihre Daten werden können. Auch Buchmann gab sich skeptisch: Das Internet entwickele sich zu schnell. „Ich glaube nicht, dass wir da mit Jura mitkommen.“ Einzig Constanze Kurz vom Chaos Computer Club gab sich „langfristig“ zuversichtlich: „Wenn ein ordentlicher Diskurs stattfindet, dann kommt man auch zu ordentlichen Lösungen.“