Der Bundestrainer Dagur Sigurdsson hat im deutschen Team in kurzer Zeit viel bewegt – und es ins EM-Halbfinale geführt.

Krakau - Die Antwort fiel harsch aus. Ob es ein Vorteil sei, gegen Spanien in die EM zu starten, wurde der Bundestrainer Dagur Sigurdsson nach dem letzten Testspiel der deutschen HandballNationalmannschaft in Hannover gefragt. Sigurdsson empfand die Frage als völlig abwegig. „Kann ich das ändern, dass wir zuerst gegen Spanien spielen?“ fragte er rhetorisch. „Nein. Also beschäftige ich mich damit nicht.“

 

Der 42-jährige Isländer hält sich also nicht lange auf mit unverrückbaren Realitäten. Er hat deshalb auch keine langen Reden geschwungen über das unfassbare Verletzungspech – vor dem entscheidenden Hauptrunden-Thriller am Mittwoch gegen Dänemark fehlten alle (!) Stammkräfte im Feld. Stattdessen stürzt der Bundestrainer sich mit großem Eifer auf die Dinge, die man in die gewünschte Richtung bewegen kann.

Offensichtlich ist, dass Sigurdsson eine Hauptrolle in diesem neuen Handball-Märchen spielt, das der Einzug in das EM-Halbfinale am Freitag gegen Norwegen (18.30 Uhr/ZDF) darstellt. Seit August 2014 verantwortet Sigurdsson als Chefcoach das Nationalteam des mitgliederstärksten Handballverbandes der Welt. Er übernahm damals eine Mannschaft, die nach dem Scheitern in der WM-Qualifikation gegen Polen am Boden lag.

„Jeder einzelne Spieler brennt“

Vorgestellt wurde der Trainer in den Räumlichkeiten der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) in Leipzig, was als sehr passender Ort erschien. Weil die deutsche Handball-Nationalmannschaft, die seit Jahren dahinsiechte, tatsächlich dringend kassenärztlichen Beistand benötigte. Keine 17 Monate später hat Sigurdsson aus einer Trümmertruppe des Handballs eine Mannschaft geformt, in der jeder einzelne Spieler brennt und große Ziele formuliert. „Ich will eine Medaille“, hatte der junge Kreisläufer Hendrik Pekeler (Mannheim) schon vor dem Turnierauftakt bekannt. „Ich bin hier, um Europameister zu werden“, erklärte sogar der Torhüter Andreas Wolff (Wetzlar) während der Vorrunde in Breslau.

Wer ist dieser Wunderheiler des deutschen Handballs? Auf jeden Fall eine sehr vielseitige Persönlichkeit – nicht nur in sportlicher Hinsicht. Sigurdsson brach schon als junger Handballprofi auf, ging nach Deutschland und spielte mit Wuppertal in der Bundesliga. Als klar war, dass sein Körper die große Belastung als Handballprofi nicht ewig aushalten würde, nahm er im Jahr 2000 ein Angebot aus Japan an; drei Jahre lang blieb er in Hiroshima. Seine Karriere beendete er im Jahr 2007 schließlich im beschaulichen Bregenz.

Zurück auf Island, modernisierte er als Geschäftsführer den Traditionsclub Valur Reykjavik. Nebenher verwandelte er in der isländischen Hauptstadt eine leer stehende historische Keksfabrik, das Kex, in ein modernes Hostel. Miteigentümer dieses florierenden Unternehmens ist sein Jugendfreund Eidur Gudjonson, der einst als Fußballprofi sein Geld beim FC Chelsea und FC Barcelona verdiente.

„Sigurdsson besitzt auch eine romantische Ader“

Das Kex ist mehr als eine modern anmutende Jugendherberge. „Das Restaurant im Kex würde sofort einen Michelin-Stern bekommen“, sagt Wolfgang Gütschow, der Berater Sigurdssons. Dieser Bau demonstriere zudem, dass Sigurdsson auch eine romantische Ader besitze, sagt Gütschow. „Dagur hat in das Kex auch Teile des Hallenbodens aus der alten Valur-Sporthalle eingebaut, auf dem er das Handballspielen lernte“, erzählt er. Auch hat Sigurdsson einige Ecken des Hostels mit Andenken aus Japan und Deutschland dekoriert.

Sigurdsson hatte sich auf ein Leben auf Island eingestellt. Aber als 2008 ein Angebot als österreichischer Nationaltrainer auf den Tisch flatterte, griff er zu – und krempelte im Österreichischen Handballbund (ÖHB) fast alles um. „Er hat damals David Szlezak, Kapitän und damals die größte Figur, einfach abgesetzt und damit die Mannschaft aufgerüttelt“, berichtet der ÖHB-Generalsekretär Martin Hausleitner. „Vorher hatten bei uns alle mitgeredet, der Trainer, der Psychologe, auch die Spieler, das änderte sich unter Sigurdsson radikal“, erzählt Hausleitner. Nun erteilte Sigurdsson klare und knappe Aufträge an die Spieler. „Und manchmal hat Dagur vor Länderspielen in der Kabine einfach gar nichts gesagt.“ Hausleitner sieht in Sigurdsson eine „charismatische Lichtfigur“ des Handballs.

In Deutschland ist die Heldenverehrung noch nicht ganz so groß. Doch von Beginn an predigte Sigurdsson den Erfolg. Er erklärte als Ziel, jedes Spiel zu gewinnen, auch jedes Testspiel. Heute ist er mit seiner Siegquote der erfolgreichste Bundestrainer aller Zeiten. Und die Typen, die er in den vergangenen 17 Monaten entwickelt hat, sind gerade dabei, Handballgeschichte zu schreiben.