Viele Mitarbeiter in den baden-württembergischen Unternehmen haben türkische Wurzeln. Der Minister für Soziales und Integration im Land, Manne Lucha, warnt vor spaltenden Diskussionen in den Belegschaften.

Chefredaktion: Anne Guhlich (agu)

Stuttgart - Die Debatte um den Rückzugs Mesut Özils aus der deutschen Fußballnationalmannschaft und die mitunter türkei-kritischen Diskussionen sind auch in der baden-württembergischen Wirtschaft ein Thema: „Viele Türken verstehen den plötzlichen Groll gegen ihr Land, gegen ihre Landsleute und gegen ihre Politiker nicht“, sagte Nejdet Niflioglu, ehemaliger Daimler-Mitarbeiter und langjähriger Vorsitzender des Mitarbeiternetzwerks Daimler Türk-Treff.

 

Die Diskussionen darüber werden auch in den Betrieben geführt: „Die Özil-Debatte bestimmt das Leben von allen Türken, ob im Ausland oder in der Türkei“, so Niflioglu. Seiner Meinung nach geht es vielen Menschen mit türkischen Wurzeln wie dem Fußballer: „Auch Daimler-Mitarbeiter fühlen sich zwischen beiden Ländern hin und her gerissen.“ Mitarbeiternetzwerke wie der Türk-Treff könnten solche Themen aufgreifen und aufarbeiten.

Fast jeder fünfte Einwanderer in Baden-Württemberg hat türkische Wurzeln – dementsprechend hoch ist auch der Anteil der Beschäftigten mit türkischem Migrationshintergrund in den Südwestfirmen. Nach Ansicht von Manne Lucha (Grüne), Minister für Soziales und Integration in Baden-Württemberg, spielen die Unternehmen eine wichtige Rolle bei der Integration von Menschen mit unterschiedlichen Wurzeln. „Für viele Menschen ist ihre Arbeit ein wesentlicher Teil ihrer Identität“, sagte er. Sie identifizierten sich mit dem Unternehmen, bei dem sie arbeiten. „Ich glaube, gerade bei uns in Baden-Württemberg mit unseren großen und weltweit bekannten Firmen, aber auch unseren vielen Hidden Champions und Mittelständlern trifft das besonders zu.“

Außerdem im Video: Wie bewerten Menschen in Stuttgart Özils Rücktritt? Wir haben uns auf der Königstraße mit der Kamera umgehört.

Die Nachkommen sogenannter Gastarbeiter machen oft Karriere

Die Einwanderung in den Arbeitsmarkt sei im Land kein ideologisches Projekt, sondern eine historisch belegbare Tradition, die den Interessen des Landes diene. Gerade die Nachkommen ehemaliger sogenannter türkischer Gastarbeiter hätten sich gut in den Arbeitsmarkt im Land integriert: „Waren in der ersten Generation noch 80 Prozent einfache Industrie-Arbeiterinnen und Arbeiter, sind es in der zweiten Generation nur noch 60 Prozent und in der dritten noch gerade mal 16 Prozent“, so der Minister. Er warnte davor, dass nun eine Debatte darüber entbrennt, wie gut oder schlecht Mitarbeiter mit türkischen Wurzeln integriert seien. „In den allermeisten Betrieben funktioniert die Belegschaft genauso wie im Fußball – nur als Team, das gemeinsam ein Ziel verfolgt und in dem jeder seine Rolle spielt“, so der Minister. „Debatten, die die Identität und Zugehörigkeit Einzelner in Frage stellen, schaden dem Team und untergraben den Zusammenhalt – und gefährden damit den Erfolg.“

Ein Daimler-Sprecher sagte, dass auch bei dem Autobauer die Menschen logischerweise nicht nur über die Arbeit sprächen, dass er in der aktuellen Diskussion um Özil aber kein Potenzial für eine Spaltung der Belegschaft sehe.

Viele Beschäftigte im Land sind stolz auf Mesut Özil

Ein Bosch-Sprecher verwies darauf, dass Vielfalt ein fester Bestandteil der Unternehmensstrategie des Technologiekonzerns sei. Integration sei ein entsprechend wichtiges Thema – innerhalb des Unternehmens genauso wie außerhalb. „Dafür engagieren wir uns schon lange, auch in externen Netzwerken.“ Die aktuelle Diskussion spiele keine besondere Rolle.

Viele türkische Beschäftigte baden-württembergischer Unternehmen unterstützen indes die Entscheidung des Fußballspielers: „Ich persönlich bin stolz auf Mesut Özil“, sagt ein türkischer Bosch-Mitarbeiter, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. „Natürlich ist das auch eine Diskussion bei Bosch.“ Auch er nimmt die gesellschaftliche Diskussion derzeit als sehr türkei-kritisch wahr: „Natürlich spaltet das“, sagt er.

Nejdet Niflioglu warnte davor, die Menschen mit türkischen Wurzeln immer dann verantwortlich zu machen, wenn etwas schief läuft: „Wir alle haben unseren Beitrag für ein gemeinsames Deutschland geleistet“, sagte er. „Doch sobald es Herausforderungen gab, wurden wir als Nutznießer hingestellt. Wir wurden als Verantwortliche hingestellt für Dinge, die wir nicht verantworten können.“