In jüngster Zeit widmen sich immer mehr Hirnforscher und Psychologen dem Darm. Ihre Vermutung: Die Bakterien der Darmflora könnten Einfluss auf das Verhalten haben – und auf Krankheiten wie Depression. Wie kann das sein?

Stuttgart/Ulm - Stefan Reber leitet an der Universität Ulm die für Sektion für Molekulare Psychosomatik. Die Forscher dort wollen wissen, inwieweit Darmbakterien auch die menschliche Psyche beeinflussen.

 

Herr Professor Reber, Mediziner widmen sich verstärkt dem Darm, um Erkrankungen des Gehirns zu verstehen. Welchen Zusammenhang gibt es?

Darm und Gehirn kommunizieren über mehrere Wege miteinander. Zum einen über den Vagusnerv – einen Nervenstrang, der die beiden Organe direkt miteinander verbindet und Informationen übermittelt. Kommt es zu Veränderungen im Darm-Mikrobiom, also in der Bakteriengemeinschaft im Darm, wird außerdem das Immunsystem aktiv. Es sorgt dafür, dass sich im Blut bestimmte Stoffe anreichern – Proteine, die eine Rolle bei Entzündungsreaktionen spielen. Sie könnten zum einen den Vagusnerv aktivieren, zum anderen aber auch selbst ins Gehirn gelangen und dort eine sogenannte Neuroinflammation auslösen – eine Entzündung des zentralen Nervensystems.

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Die Darmbakterien produzieren außerdem neuroaktive Substanzen – etwa die Hormone Dopamin und Serotonin. Diese Substanzen haben dann einen Einfluss auf unsere Stimmung. Auch die Produktion von kurzkettigen Fettsäuren im Darm spielt eine Rolle – sie sind wichtig für den Stoffwechsel, für die Aufrechterhaltung der Darmbarriere – dem Schutzwall des Darms - und für eine funktionierende Immunabwehr, auch im zentralen Nervensystem. Gerät hier etwas aus dem Gleichgewicht, könnte das Folgen haben.

Wie zeigt sich ein möglicher Einfluss?

Über die genauen Wirkmechanismen weiß man relativ wenig. Die meisten Annahmen kommen aus Studien mit Mäusen. So konnte man zeigen, dass ein Verpflanzen der Bakteriengemeinschaft von depressiven Menschen bei eigentlich gesunden Mäusen ein ähnliches Krankheitssyndrom auslöst. Bekommen keimfrei aufgezogene Mäuse, die von ihrer Genetik her sehr ängstlich sind, die Bakteriengemeinschaft von mutigen Mäusen übertragen, sind sie plötzlich weniger ängstlich, und umgekehrt. Es ist somit inzwischen relativ klar, dass man im Tiermodell über eine Stuhltransplantation auch Emotionalität übertragen kann.

Eine neue, groß angelegte Studie aus Belgien belegt, dass bestimmte Bakterienarten im Darm von depressiven Menschen kaum vorhanden sind. Könnte es nicht auch sein, dass die Psyche Einfluss auf die Ernährung hat – und sich deshalb die Darmflora verändert?

Die Frage nach Ursache und Wirkung ist ganz schwierig. Wir sehen aber bei vielen Erkrankungen enge Zusammenhänge. Bei Patienten mit der Darmerkrankung Morbus Crohn sind wichtige Bakterien verringert. Aber war das schon vor der Erkrankung so? Auch Reizdarmpatienten und Menschen mit Autismus oder Depression haben eine veränderte Darmflora. Bei letzteren bleibt auch die Frage: Ist die Depression die Folge einer im Darm beginnenden Entzündungsreaktion – oder ist die Entzündung eine Reaktion auf die psychische Erkrankung?

Depressionen hängen auch von der genetischen Veranlagung ab.

Ja. Entscheidend sind – das weiß man heute – zum Beispiel auch Erfahrungen, die schon die Eltern gemacht haben. Sie werden sozusagen vererbt. Dazu kommen eigene Erfahrungen in Kindheit und Jugend und der Lebensstil. Solche Faktoren sind durchaus in der Lage dazu, die Darmflora zu stören. Jemand, der in der Stadt lebt, kommt weniger in Kontakt mit vielfältigen Mikroorganismen, deshalb ist seine Darmflora anders. Wir vermuten, dass das Mikrobiom eine Art Mittlerrolle zwischen verschiedenen Einflussfaktoren einnimmt.

Beeinflusst die Darmflora auch die eigene Gelassenheit?

Wir wissen, dass Stress zu einer Veränderung im Darm-Mikrobiom führt. Die Vielfalt der Bakterien geht zurück. Wenn wir Mäuse einige Tage lang chronischem Stress aussetzen – unter kontrollierten Bedingungen natürlich -, ihnen aber dann aber den Stuhl von nicht-gestressten Mäusen geben, fällt ihre Reaktion auf einmal milder aus. Sie bewältigen den Stress besser, sind weniger ängstlich und nicht so Anfällig für Entzündungen und Störungen des Knochenstoffwechsels. Bei Menschen können wir das nicht so leicht testen. In ersten Studien hat sich aber gezeigt, dass sich die Vorgänge im Gehirn von Menschen positiv verändern, die über sechs Wochen lang Probiotika aufgenommen haben – also bestimmte Bakterienstämme. Da stehen wir mit der Forschung noch ganz am Anfang.

Viele entzündliche Darmerkrankungen, aber auch Erkrankungen des Gehirns nehmen zu. Hat das also etwas mit unserem heutigen Lebensstil, unserer Ernährung zu tun?

Ja, das würde ich durchaus so sagen. Durch die typische, westliche Kost mit viel Fett und vielen Kohlenhydraten geht die Vielfalt der Darmbakterien verloren. Wenn man die Darmflora von Menschen in Industrieländern mit der von Stammesangehörigen vergleicht, die noch sehr ursprünglich leben, sieht man: Die Biodiversität in unserem Darm hat dramatisch abgenommen. Das hat einen Einfluss zum Beispiel auf unser Immunsystem - denn das muss zwischen guten und schlechten Bakterien unterscheiden. Eine Vermutung ist: Weil das Mikrobiom sich heute extrem von dem unterscheidet, was das Immunsystem evolutionsbedingt kennt, reagiert es über. So steigen zum Beispiel entzündliche Erkrankungen an - auch psychische Erkrankungen, die eine entzündliche Komponente haben.