Über vier Jahre verhandelt Michel Barnier als EU-Unterhändler den Austritt Großbritanniens aus der Union. Nun präsentiert der Franzose ein „Geheimes Brexit-Tagebuch“.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Paris - Boris Johnson erscheint als Gestalt mit vielen Gesichtern. Als sprunghaft und wenig vertrauenswürdig wird der britische Premier von Michel Barnier immer wieder beschrieben. Gleichzeitig sei diese „barocke Persönlichkeit“ ausgestattet mit einem geradezu überbordenden Selbstbewusstsein. „Er hatte die Gewissheit eines Mannes, der eine Wahl gewonnen hat: Kein Brexit mehr! Finito!“ Barnier bescheinigt dem Regierungschef aus London ein Vorgehen „wie ein Bulldozer“ und stellt zugleich fest: „Er hat aber in seinem Blick, in seinem Gesichtsausdruck auch etwas Authentisches und Maliziöses. Alles in allem ziemlich sympathisch.“

 

Ein tiefer Einblick in die Arbeit in Brüssel

Der EU-Unterhändler Barnier bietet in seinem Buch „Die große Illusion - Geheimes Tagebuch des Brexits“, das am Donnerstag auf Französisch bei Gallimard in Paris erschienen ist, einen tiefen Einblick in den Maschinenraum der Verhandlungen zwischen London und Brüssel. Ausgeplaudert werden allerdings keine Geheimnisse, dazu ist der Franzose noch immer zu sehr Diplomat. Dennoch liefert der 70-Jährige eine lesenswerte Chronik der irrwitzigen Wendungen in der endlosen Saga um den britischen Austritt aus der EU.

Mehr als vier Jahre pendelte Barnier im Auftrag der Europäischen Union zwischen den Fronten und wurde in dieser Zeit offensichtlich immer wieder vor den Kopf gestoßen von den Possen der britischen Kollegen und irritiert von dem Chaos, das in London herrschte. Bisweilen scheint in dem Buch aber auch ein gewisser Neid des korrekten EU-Diplomaten auf seine Verhandlungspartner durchzuscheinen. Die pflegten nach seinen Aussagen einen lockeren Umgang mit Fakten und nahmen Versprechen auch sehr schnell wieder zurück, wenn es um den eigenen politischen Gewinn ging.

Bewerbung für den Präsidentenposten

Deutlich wird allerdings, dass Michel Barnier nicht nur einen Rückblick auf seine Zeit als Brexit-Unterhändler geschrieben hat. Sein Buch ist auch ein mehr als 500 Seiten langes Bewerbungsschreiben für das französische Präsidentenamt. Denn er 70-Jährige wird als möglicher bürgerlicher Kandidat für die Wahl im kommenden Jahr gehandelt. Er präsentiert sich als agilen Netzwerker zwischen den 27 EU-Hauptstädten, als verlässlichen, nüchternen, staatsmännischen Verhandlungsführer.

In die Abteilung Wahlkampf zählt auch, dass die erste Person, die in dem Buch erwähnt wird - in einem kurzen Vorwort mit dem Titel „Eine Warnung“ - die rechtsextreme französische Parteichefin und Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen ist, die sich über das Ergebnis des Brexit-Referendums freute.

Barnier warnt vor Marine Le Pen

Deutlicher wird Michel Barnier in einem Interview mit dem Sender „France Info“ bei der Präsentation seines Buches. Er habe sich an einem eigentlich „unwahrscheinlichen Ereignis“ abgearbeitet, sagte er, solch ein Ereignis könne sich auch in Frankreich ereignen, mit der Wahl von Marine Le Pen. Der große Wert der europäischen Einheit sei durch diese Anti-Europäerin in Gefahr, betonte Barnier, und ließ keine Zweifel, dass er sich als Retter in dieser Not sieht.