Einem Gesetz zufolge dürfen Notfallsanitäter nicht ohne Rücksprache mit einem Arzt eigenverantwortlich heilkundlich tätig werden. Ihre Arbeit ist oft ein Konflikt zwischen unterlassener Hilfeleistung und Körperverletzung. Das Deutsche Rote Kreuz in Biberach möchte das ändern.

Biberach - Blaulicht flackert über die Allee. Mit Sirene und 130 Kilometern pro Stunde rast der Rettungswagen über die Landstraße im schwäbischen Biberach. In einer Tagesstätte für Senioren ist ein Mann kollabiert und kurzzeitig in Ohnmacht gefallen. Mehr weiß Notfallsanitäter Adrian Filser nicht. Er sitzt auf dem Beifahrersitz, zieht sich blaue Einmalhandschuhe an. Für ihn sei es jedes Mal eine neue Herausforderung, jedes Mal die Ungewissheit, ob alles gut geht - für den Patienten und für ihn.

 

Sanitäter darf einem Zuckerkranken kein Insulin geben

Der 81-jährige Mann sitzt in einem Sessel, sein Oberkörper hängt zur linken Seite, er wirkt desorientiert. Im Bett neben ihm schläft eine Zimmerkollegin. Sie lässt sich auch nicht stören, als die beiden Sanitäter den Raum betreten. Filser kniet sich neben den Mann: „Wie geht es Ihnen?“ Der 81-Jährige blickt ihn an und versucht, Worte herauszubringen - aber er kann nicht. Ein Helfer vor Ort diktiert Filser die Vitalwerte, die der 22-Jährige auf der Rückseite seines Handschuhs notiert: „Blutzucker: 300 mg/dl“. Verdacht auf Überzuckerung. Für den Diabetiker eine bedrohliche Situation. Er braucht Insulin. Aber Filser darf es ihm nicht geben.

In seiner dreijährigen Ausbildung zum Notfallsanitäter hat er zwar gelernt, Zugänge zu legen. In der Rechtsprechung gelten solche invasiven Maßnahmen aber als Körperverletzung, sagt Filser. Er müsste in diesem Fall zunächst den Vormund des dementen Patienten kontaktieren. Theoretisch zählt auch das Messen des Blutzuckers dazu, da für den Tropfen Blut aus der Fingerspitze die Hautschicht verletzt wird und dies einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellt. Ein Heilmittel darf er nur in Absprache mit Ärzten und Heilpraktikern spritzen. Ist der Notarzt nicht vor Ort, muss Filser mit ihm telefonisch Rücksprache halten und die Erlaubnis einholen. Ausnahme: Ein lebensgefährlicher Zustand. „Rechtfertigender Notstand“ heißt das in der Fachsprache. Doch was, wenn keine Notsituation vorherrscht, aber es eine werden könnte, wenn der Notfallsanitäter nicht eingreift?

„Muss jedes Mal überlegen, ob ich helfen darf oder nicht“

Filser hatte vor einigen Wochen ein solches Erlebnis: Blutung im Magen-Darm-Bereich, Vitalwerte nicht akut lebensbedrohlich, Notarzt nicht erreichbar. Filser gab eine Kochsalzinfusion, um den Blutdruck auf einem Level zu halten. Wäre etwas als Folge auf seine Infusion passiert, ist Filser wie alle Notfallsanitäter nicht abgesichert. Er hätte haften müssen - privat. In anderen Fällen besteht die Gefahr, sich wegen unterlassener Hilfeleistung verantworten zu müssen. „Wenn ich jedes Mal überlegen muss, ob ich helfen darf oder nicht, dann läuft etwas schief. Immer stellst du dir die Frage: Kriege ich das vor Gericht durch?“, fragt sich Filser.

Manchmal liege die Spritze bereit und man wartet auf den Arzt, erzählt Filser. „Dann sitzt du vor dem Patienten, der fast so grau ist, wie die Betonwand und weißt, der hat Schmerzen wie ein Gaul, aber du darfst nichts geben.“ In solchen Situationen fühle er sich wie angebunden. „Notärzte fragen, warum nicht eingegriffen wurde: „Du kannst das doch, warum machst du es nicht?““, heißt es dann. „Man muss sich jedes Mal rechtfertigen“, erzählt Filser. Die Gesetzgebung müsste schauen, dass die Notfallsanitäter nicht die ganze Zeit mit einem Fuß im Gefängnis stehen.

Rechtssituation soll geklärt werden

Sein Kreisverband hat sich nun an die Regierung gewandt, um diesem Dilemma entgegenzuwirken. Die Forderung: Die unklare rechtliche Situation durch eine entsprechende Anpassung des bundesweiten Gesetzes klarzustellen und die Fragen nach dem Versicherungsschutz zu klären. Das Bundesgesundheitsministerium habe das Thema bereits im Blick und ist im Austausch mit den Ländern. Konkrete Festlegungen gebe es noch nicht, sagt ein Ministeriumssprecher.

„Wir wollen keinen Notarzt ersetzen, sondern Erkrankten schnelle Hilfe ermöglichen“, meint Geschäftsführer des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) Biberach, Michael Mutschler. „Wir sind ländlich strukturiert und haben lange Wege. Das therapiefreie Intervall könnte so verkürzt werden.“ Notärzte wären schneller verfügbar für andere Patienten und nicht jeder Patient müsste sofort ins Krankenhaus gebracht werden. So wie der Senior aus der Tagesstätte. Er kann schon wieder lachen, als ihn Filser auf einer Trage in den Rettungswagen schiebt. Das Insulin wird ihm ein Arzt in der Notaufnahme verabreichen. Doch dort heißt es erstmal: warten.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ist am Freitag in Biberach, um über das umstrittene Notfallsanitätergesetz beim DRK zu diskutieren. Das DRK plant, Spahn Lösungsansätze für eine Anpassung des Gesetzes vorzustellen.