Im südosttürkischen Diyarbakir verschlimmert der Kurdenkonflikt die Not nach dem Erdbeben. Die Menschen fühlen sich von der Regierung betrogen und im Stich gelassen. Daran ändert auch ein Besuch von Präsident Erdogan nichts.

Verbote „Verbote, Verbote, was sind das für Verbote“, schreit eine Frau über das Absperrgitter an einer Hauptstraße hinweg einem vermummten Polizisten in Diyarbakir zu. Der Beamte schweigt betreten. „Irgendjemand muss uns doch irgendwann etwas sagen!“ Das Gitter riegelt die Einsturzstelle des Galeria-Turms ab, einer Wohnanlage mit 36 Apartments an den römischen Stadtmauern der Kurdenstadt in Südostanatolien.

 

Vor den Resten des Galeria-Komplexes und anderen Trümmerbergen in Diyarbakir, einer Stadt mit mehr als 1,7 Millionen Einwohnern, warten Verwandte von Erdbebenopfern auf eine Nachricht der Bergungsteams. Wer hingehen will, wird von Polizisten zurückgedrängt. So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich in den kalten Nächten an Holzfeuern zu wärmen, bis ihnen jemand mitteilt, ob ihre Angehörigen tot sind oder leben.

Niemand kommt und gibt Informationen

Zum Leid, das alle Überlebenden und Obdachlosen des Erdbebens teilen, kommt in Diyarbakir der Kurdenkonflikt dazu: Die Obrigkeit misstraut den Menschen, weil sie in vielen von ihnen Anhänger der kurdischen Terrororganisation PKK sieht. Auf der anderen Seite stoßen auch die Staatsvertreter auf Ablehnung. Denn Diyarbakir steht unter Zwangsverwaltung der türkischen Zentralregierung, es gibt keine Verständigung zwischen Bewohnern und den Behörden, die ihnen helfen sollen.

Seit fast einer Woche stehe sie nun hier, sagt die Frau am Polizeigitter, die Ayse heißt und 62 Jahre alt ist. In dem eingestürzten Galeria-Wohnturm lebte ihr Bruder mit seiner Frau und zwei Kindern. Sie weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Zum Gouverneursamt und zum Landrat sei sie zwischendrin gelaufen, habe überall um Information gebettelt, aber niemand wolle ihr etwas sagen. Die umstehenden Angehörigen stimmen in die Klage ein. Einen dicht gedrängten Haufen Verzweiflung bilden die Angehörigen in den dunklen Wintermänteln. Mitanpacken dürften sie ohnehin nicht, sagt eine andere Frau bitter. Ihrem Neffen, der sich als freiwilliger Helfer melden wollte, sei erklärt worden, das sei Sache des Staates. „Es würde ja schon reichen, wenn ab und zu einer rüberkommt und uns berichtet“, sagt Ayse. „Ist das denn wirklich zu viel verlangt?“

Zehntausende in Diyarbakir sind obdachlos

Ganz anders wäre das mit der Stadtregierung gelaufen, die von der Bevölkerung gewählt wurde, meint eine dritte Frau: „Die waren aus dem Volk und vom Volk gewählt. Wir hätten alle zusammengearbeitet und zusammen geholfen.“ Doch die 2019 gewählten Bürgermeister von Diyarbakir sitzen hinter Gittern, weil sie der Kurdenpartei HDP angehören. Statt ihrer regiert in Diyarbakir – wie in vielen anderen kurdischen Kommunen – ein Zwangsverwalter aus Ankara, den die meisten Bewohner als illegitimen Besatzer ablehnen.

Fast 300 Menschen sind in Diyarbakir beim Beben ums Leben gekommen, Hunderte von Häusern sind eingestürzt oder so schwer beschädigt, dass sie unbewohnbar sind. Dabei hatte sich die Stadt noch nicht von den letzten Zerstörungen erholt: Vor sieben Jahren hatten monatelange Straßenkämpfe zwischen der türkischen Armee und der PKK große Teile der Innenstadt verwüstet. Jetzt hat das Erdbeben wieder Zehntausende in Diyarbakir obdachlos gemacht. Drei Zeltstädte sind seit dem Beben vor einer Woche in der Stadt aufgebaut worden.

Auch Präsident Erdogan bekommt wenig Beifall

Trotzdem reichen die Kapazitäten nicht. In der großen Moschee von Diyarbakir liegen Obdachlose unter Decken auf dem Teppich, während sich andere am Brunnen im Vorhof waschen. In fast allen Kirchen der Stadt fällt der Gottesdienst aus. Die Armenier sind nach Antakya gefahren, um bei Beerdigungen zu helfen, die Assyrer nach Adiyaman, um der Gemeinde dort beizustehen; nur in der evangelischen Kirche wird am Sonntag gebetet – dort haben rund 30 Gemeindemitglieder Zuflucht gesucht und sitzen um den Ofen beim gemeinsamen Frühstück. Trotz seiner blutigen Geschichte von Völkermord, Vertreibungen und Kriegen bis in die jüngste Vergangenheit ist Diyarbakir eine multikulturelle Stadt geblieben mit vielen Sprachen, Religionen und Kulturen.

Nach dem Erdbeben durchdringt das Misstrauen vieler Bürger gegen die Zentralgewalt den Alltag der Stadt. Eine Frau zeigt Fotos von den Spenden für Obdachlose, die sie mit ihren Nachbarn gesammelt hat: Decken, Windeln, Tee und Lebensmittel. „Wir passen aber auf, dass das nicht der Zwangsverwaltung in die Hände fällt“, sagt sie. „Wir verteilen das selbst, denen trauen wir nicht.“ Als Justizminister Bekir Bozdag nach Diyarbakir kommt, um sich die Erdbebenschäden anzusehen, wird er ausgebuht. „Diebe, Diebe“, rufen Passanten. Kurz darauf besucht Recep Tayyip Erdogan selbst die Stadt. Der Präsident kämpft gegen den Eindruck, der Staat lasse die Opfer im Stich. „Vertraut uns, glaubt uns“, beschwört er seine Zuhörer. „Wir lassen niemanden auf der Straße sitzen, wir lassen niemand unter den Trümmern, ob tot oder lebendig.“ Und die Behörden weisen darauf hin, Notunterkünfte zur Verfügung gestellt und warme Mahlzeiten verteilt zu haben. Außerdem könnten die öffentlichen Busse gratis benutzt werden.

Man hilft sich gegenseitig in der Kurdenregion

Trotzdem kann Erdogan bei seinem Besuch nicht viele Menschen in Diyarbakir überzeugen, der Applaus für seine Rede bleibt dünn. Wer hier fehle, das seien „echte Volksvertreter“, bemerkt eine junge Frau. „Immer die starken Sprüche von der Regierung, aber nichts dahinter“, sagt sie. „Gestern drohte sie den Griechen noch, man würden über Nacht kommen – und jetzt sind es die Griechen, die zu uns gekommen sind – und zwar als Helfer.“ Auch der Parlamentsabgeordnete Sezai Temelli widerspricht dem Präsidenten. Erdogans Zentralstaat sei beim Erdbeben gescheitert, sagt der ehemalige Vorsitzende der Kurdenpartei HDP in Diyarbakir. „Die Stadtverwaltung tut immer noch nichts. Die Leute helfen sich gegenseitig und schlagen sich so durch“, sagt Temelli.

An den Absperrungen vor einem eingestürzten Wohnhaus in der Kurt-Ismail-Pascha-Straße wartet eine Freundesgruppe auf Nachricht von zwei Brüdern, dem 19-jährigen Sidar Bulak und seinem Bruder Kadir, die mit ihrer Mutter in den Trümmern des zehnstöckigen Gebäudes vermisst werden. Ein hydraulischer Kran und ein Bagger sind hier am Werk, dichter Staub liegt in der Luft. Am Samstagmorgen ist hier noch eine Frau lebend herausgeholt worden, deshalb wollen Kübra, Apo und ihre Freunde die Hoffnung nicht aufgeben, obwohl sie schon fast eine Woche vergeblich in der Kälte warten. Die Freunde wollen nicht weichen, bis die Brüder gefunden sind – und sie wollen fest daran glauben, dass sie leben.

Auch eine Sängerin ist unter den Toten

Bewegung kommt in die Menge, ein Krankenwagen fährt vor: Gute Nachrichten? Doch es ist ein schwarzer Leichensack, der eingeladen wird. „Nein, keiner von unseren“, berichtet ein junger Mann. „Eine ältere Frau soll es sein.“ Eltern oder Kinder von Vermissten sollten sich zum Leichenhaus begeben, um DNA-Proben abzugeben, damit die Toten identifiziert werden könnten, ruft ein Mann durch den Zaun in die Menge. Doch keiner geht, niemand will die Hoffnung aufgeben.

Der Abend bricht an, Scheinwerfer flammen auf, es wird noch kälter, die Temperaturen sinken weit unter den Gefrierpunkt. Aus dem Haus an der Kurt-Ismail-Pascha-Straße wird in der Nacht noch ein lebloser Körper gezogen; es sind die sterblichen Überreste der Sängerin Zilan Tigris, die mit ihrem Ehemann – einem Schauspieler – hier wohnte. Die armenisch-kurdische Künstlerin, die bürgerlich Dilek Kücüker hieß, sang Lieder in allen Sprachen der Stadt – Kurdisch, Armenisch, Arabisch, Aramäisch, Zaza und Türkisch. Sie verkörperte mit ihrer Biografie und ihrer Musik den Geist dieser uralten Stadt am Tigris. Zum Mittagsgebet wird sie am nächsten Tag in Diyarbakir beerdigt.