Sie war noch nie auf dem Fernsehturm. Also höchste Zeit. Unsere Autorin Eveline Blohmer berichtet von ihrem ersten Besuch auf Stuttgarts Wahrzeichen – und davon, was die Auffahrt mit ihr gemacht hat.

Degerloch - Es ist vollbracht. Der Sprung aus der Illegitimität ist geschafft, die Initiation geglückt, die Integration nimmt ihren Lauf: Ich habe den Blick vom Fernsehturm schweifen lassen. Zum ersten Mal in meinem Leben. 60 Jahre, drei Monate und ein paar Tage nach seiner Eröffnung. Und auf die Gefahr hin, etwas albern zu klingen, muss ich gestehen: Ich fühle mich tatsächlich stuttgarterischer.

 

Vielleicht ist es der Weltraum-Effekt. Ich habe einmal von einem Astronauten gelesen, der ein besonderes Gefühl der Verbundenheit mit dem Planeten Erde und was auf ihm wandelt verspürte, weil er ihn und es aus der Distanz betrachtete. Tatsächlich fühle ich mich Stuttgart auch gleich viel verbundener, wenn ich nicht im Stau stecke, sondern den Verkehr von oben sehe. Spaß beiseite: Sie sieht tatsächlich sehr idyllisch aus, die Stadt, wie sie da so liegt in ihrem von satten Grüntönen durchzogenen Kessel.

Traumlandschaft für Modellbauer

150 Meter. Ein guter Abstand von der Erde, um Abstand von Irdischem zu gewinnen. Denn eine Spielzeugwelt kann einem nichts anhaben, denke ich bei mir, als ich auf der unteren Plattform ankomme und auf die Traumlandschaft eines jeden Modelleisenbahners blicke.

Aber erst einmal muss ich rauf. Offenbar habe ich mir einen guten Tag für meine Erstbesteigung ausgesucht: Weil es aus dem grauen Himmel stetig tröpfelt, ist auch der Publikumsstrom kurz nach der Öffnung um 10 Uhr noch ein Rinnsaal. Nach den Berichten über den Ansturm nach der Wiedereröffnung hatte ich mit einer turmlangen Warteschlange gerechnet und bin positiv überrascht, dass ich einfach so durchmarschieren kann zur Kasse und zum Aufzug.

Von Letzterem habe ich mir aber etwas mehr erwartet. Was genau, weiß ich auch nicht. Was soll ein Vertikalaufzug auch anderes tun, als nach oben oder unten zu fahren und das möglichst ohne Zwischenfälle. Aber immerhin ist es einer der beiden Fernsehturm-Aufzüge und insofern kein Nullachtfünfzehn-Fahrstuhl. Trotzdem merke ich nichts davon, dass er mit fünf Metern pro Sekunde durch den Turmschaft schießt, tue ich, was Soziologen und Psychologen beschrieben haben: Ich meide den Blickkontakt zum Liftführer und dem einzigen Mitfahrer, entdecke an der Decke die hübschen kleinen Lämpchen – und bin auch schon oben angekommen.

Erinnerungen an Australien

Mit mir sind nur wenige auf den beiden Plattformen. Eine alte Frau zeigt ihrem Enkel um die zwanzig, was sie alles erspähen kann. Eine regenbeschirmte Rentnergruppe gleicht ihr heimatkundliches Wissen mit dem bronzenen Landschaftsrelief auf der Brüstung ab. Ein Paar mittleren Alters dreht Kreise. Ich messe mit Blicken die Höhe des Zauns und bin mir ziemlich sicher, sicher zu sein.

Zwei Runden drehe ich auf jeder Plattform, suche in der Ferne die Heimat, finde sie aber schon allein wegen des trüben Himmels nur auf dem Relief. Ob der Inschriften, die sich seit der Wiedereröffnung des Turms am 30. Januar schon angesammelt haben, muss ich lächeln: Dieses Bedürfnis der Menschen, ihr Da(gewesen)sein festzuhalten. Dann denke ich, ziemlich genau 71 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, an die russischen Soldaten, die sich im Reichstagsgebäude verewigt haben. Und an den Ort, an dem mein Name inzwischen wohl ziemlich verblichen ist (was gut ist, weil ich mich zutiefst und zu Recht dafür schäme, ihn in meiner jugendlichen Unwissenheit auf dem Ayers Rock, dem heiligen Berg der australischen Ureinwohner, hinterlassen zu haben). Außerdem frage ich mich, ob Anna und Christian etwas über einen Monat nach ihrem Besuch immer noch so verliebt sind und was Silas heute so treibt.

Diese Gedanken nehme ich mit ins Café eine Ebene tiefer. An einem Tisch, der laut Fenster-Beschriftung vier Kilometer vom Monte Scherbelino, ebenso viele vom Stuttgarter Hofbräu und sechs Kilometer vom Rotwildpark entfernt steht, bin ich nah dran an euphorischen Gefühlen für meine Wahlheimat und ihr Wahrzeichen. Die stolzen 3,70 Euro für einen Milchkaffee macht die Freundlichkeit vom Kellner Selman wett. Und am Ende tut mir sogar der Aufzug noch den Gefallen, einen Effekt auf meinen Körper auszuüben: Auf der Fahrt nach unten spüre ich einen leichten Druck auf den Ohren.