„Ein ganzes Leben“ hat Robert Seethaler berühmt gemacht. Sein neuer Roman „Das Feld“ zeichnet auf, was die Toten aus dem Jenseits zu berichten haben.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Im Mittelalter waren Totentänze beliebte Darstellungsformen, um die Allgewalt des Sensenmanns zu demonstrieren, der niemand entgeht, weder Papst, König, Kaufmann, Bauer noch Bettler. Er hat sie alle im Griff als makabrer Vorschein einer Utopie völliger Gleichheit. Im Defilee der Todgeweihten zieht die Ordnung der Ständegesellschaft vorbei, ein Bild des Lebens im Ganzen, von seinem letzten Einheitspunkt aus betrachtet.

 

Der Schriftsteller Robert Seethaler hat zuletzt „Ein ganzes Leben“ in einen Roman überführt, so dass es seiner scheinbaren Geringfügigkeit und den offenbaren Niederlagen zum Trotz im Andenken vieler Leser als kostbare Frist des Glücks fortbesteht. „Ein ganzes Leben“ erzählt in knapper Form von jenem Andreas Egger, der liebte, litt und am Endes seinen letzten Weg geht, während über ihm die Zeiten zusammenschlagen. Ein Roman, ernst und schön wie ein Grab, der seinem Autor vor zwei Jahren eine der für deutschsprachige Literatur raren Nominierungen für den Man Booker International Prize eintrug.

Kirche brennt, Gott lebt

Nun ist Robert Seethaler zurückgekehrt und dies gleich in einem doppelten Sinn. Denn sein neuer Roman „Das Feld“ führt geradewegs dorthin, wo im Zeichen des Grabes die Toten zu sprechen beginnen. Und wie unvollendet die Wünsche, Erwartungen und Vorhaben den Lebenden auch immer entglitten sind, vom Jenseits aus betrachtet sind sie vollendet. Der Tod amortisiert literarisch, was im Leben offen blieb.

Das Feld ist der älteste Teil des Friedhofs des fiktiven Städtchens Paulstadt. Hierher kommt täglich ein alter Mann, um auf einer Bank unter einer krumm gewachsenen Birke den imaginären Stimmen zu lauschen, die sich wie das Summen der Insekten oder Vogelgezwitscher in seine einsamen Tagträume mischen. Wie auf einem Catwalk in der Schattenwelt ziehen die Verstorbenen vorbei, um in markanten Details ihr Leben zur Schau zu stellen.

Da ist die Lehrerin, deren Liebe Gestalt gewinnt zwischen dem ersten und letzten Moment des An-der-Hand-Haltens. Ihr folgt der Versicherungsagent, der zum Wolf bestimmt war, aber als Schaf endet. Der Pfarrer erzählt vom lodernden Eifer seiner Berufung und wie ihm das Gebäude seines Glaubens in Flammen aufging. Ein Vater gibt seinem Sohn ein paar Dinge mit auf den Weg: „Mach dir keine Mühe, die richtige Frau zu finden. Es gibt sie nicht. Sobald du glaubst, die richtige Frau gefunden zu haben, wird sie sich als die falsche herausstellen. Immerhin kannst du versuchen, in der falschen so viel Richtiges zu finden, dass es Spaß macht. Das war es dann aber auch.“ Dass es um den richtigen Mann nicht besser bestellt ist, erzählt ein Zimmermädchen, das an einen Spieler geraten ist, der sie mit Automaten betrogen hat, nun ruht er im Grab nebenan. Der korrupte Bürgermeister gesteht seine Verbrechen, „Freunde, ich war einer von euch!“. Und der Reporter des „Paulstädter Boten“ lässt die Stadtgeschichte in Schlagzeilen Revue passieren, „Kirche brennt, Gott lebt!“.

Existenzielle Kabinettstückchen

Im „Feld“ kann Seethaler seine Kunst der Verknappung demonstrieren. Auf engstem Raum finden gleich 29 ganze Leben Platz. In biografischen Shortcuts verwebt er die abgeschnittenen Lebensfäden und lässt die Erzählungen der Toten miteinander korrespondieren. Die zerstreuten Glieder fügen sich zusammen zum Gesellschaftsbild einer Kleinstadt durch alle Schichten hindurch. Mit der Einschränkung vielleicht, dass auf dem Totenacker vor allem jene Sonderlinge, Narren und bizarren Naturen ins Kraut schießen, für die dieser Autor seit je eine ausgeprägte Vorliebe hegt. Typen wie jener junge Mann, der als Kröte in den Mutterschoß der Erde zurückschlüpfen will.

Nun würde man vom Friedhof aus betrachtet die Welt nicht unbedingt rund und bunt erwarten. Aber müsste dieses moribunde Erzählkonzept die Verschiedenen nicht gerade in ihrer unhintergehbaren Eigenart zur Geltung bringen? Bei Seethaler jedoch teilen sie nicht nur die Vorliebe für edel-bittere Wahrnehmungsweisen, sondern auch die Formen, sie auszudrücken: „Alles fühlte sich gut an“, sagt der Spieler, wenn er sich erinnert, wie sich die Räder drehten und der Alkohol im Blut pulsierte, die Schuhverkäuferin fühlte sich falsch in ihrem Körper, die Kindheitserinnerungen der feinen Dame dagegen erzeugen ihr kein schlechtes Gefühl, dem Reporter wiederum kam der Tod seines Vaters irgendwie falsch vor. Zu viel Gefühl aber schadet der Glaubwürdigkeit der Toten. Ebenso ihre Marotte, Aufzählungen in die Wendung „solche Dinge eben“ münden zu lassen. Ist das Vertrauen erst einmal zerstört, stößt man sich plötzlich auch an der exquisiten Poesie vom Himmel schneiender kalter Sterne oder an den flatternden Schatten wie in einem Schwarm zarter, schwarzer Schmetterlinge, an den ausgeschüttelten Träumen im Gras. Möglicherweise haben die Lehrer in Paulstadt einfach zu viel Trakl durchgenommen.

Auf jeden Fall klingen Seethalers existenzielle Kabinettstückchen so diesseitig kalkuliert, dass man dazu nicht unbedingt die ewige Ruhe der armen Seelen hätte stören müssen. In seinem auf Vielfalt angelegten Danse Macabre triumphiert der Tod vor allem in der Rolle, die ihm bereits das Mittelalter zugewiesen hatte: als großer Gleichmacher.