Klassisches Volkstheater? Das will Traugott Krischkes 20er-Jahre-Stück „Das Fräulein Pollinger“ auf keinen Fall sein. Die bissige Gesellschaftssatire ist jetzt im Theater Tri-Bühne zu sehen.

Stuttgart - Durchschnittsgesicht, Durchschnittskleid, Durchschnittskörper: Agnes Pollinger sieht in sich selbst nichts Besonderes. Ihre Anstellung als Schneiderin hat die junge Münchnerin gerade verloren. Einen neuen Job sucht sie aufgrund der schlechten Wirtschaftslage bisher vergebens. Als schließlich die Männer auf das scheinbare Mauerblümchen aufmerksam werden, wittert die naive Agnes ihre Chance auf ein besseres Leben. Doch dabei rennt sie schnurstracks in ihren eigenen Untergang.

 

Traugott Krischkes Volksstück „Das Fräulein Pollinger“ schaut auf das München der 20er Jahre – eine Stadt voller heimatverbundener, einfach gestrickter Menschen, die sich gerade aus dem Schatten des ersten Weltkriegs zurück ins Jetzt kämpfen. Unwissend, dass Ihnen bald schon wieder das nächste Desaster bevorsteht. Krischke hat sich für diese Gesellschaftssatire verschiedene Novellen des Schriftstellers Ödön von Horvâth vorgenommen. Auf Basis jener Erzählungen soll „Das Fräulein Pollinger“ dem launigen Volkstheater, als das es zunächst daherkommt, einen faden Beigeschmack geben: An der Liebe klebt hier ständig das billige Geschäft, an der Lebensfreude der Figuren die Bissspuren eines harten Überlebenskampfes im Frühkapitalismus.

Zuschauer als Wirtshausgäste

In Edith Koerbers Inszenierung muss man auf die subtile Unterwanderung der zünftigen Wirtshausstimmung jedoch lange warten. Das Stück, das am vergangenen Mittwoch im Theater Tri-Bühne Premiere feierte, verharrt über weite Strecken im Gebaren des klassischen Volkstheaters: Schmutzige Witze werden ausgetauscht, es wird mit bayerischem Akzent gesungen und der Zuschauerraum dient als Wirtshaus, in dem das Publikum an Bierbänken sitzt und unter einem Himmel aus Lichterketten Weißweinschorle schlürft.

All das wäre zur Abendunterhaltung ja ganz nett. Doch die Entlarvung, die Erkenntnis, dass dieses Stück eben gerade nicht das ist, was es zu sein scheint – all das wird erst sehr spät wirklich deutlich. Der Grund: Agnes Pollinger bleibt fast bis zum Ende das naive Dummchen, das sich mit großen Augen von einer schlüpfrigen Situation in die nächste manövriert.

Ihre Entwicklung hin zum Opfer einer von Gier, Macht und Geld getriebenen Gesellschaft wirkt teils sprunghaft. Gerade noch schlägt Agnes Pollinger mit keckem Wimpernaufschlag den ihr angebotenen Politikteil der Zeitung aus (sowas ist schließlich nichts für Frauen). Gerade wippt sie beim Angebot, nackt für einen Künstler zu posieren noch begeistert mit dem Kopf. Gerade sitzt sie noch schmatzend und mit roten Backen an der Seite eines angesehenen Eishockey-Spielers im Restaurant.

Am Ende wird’s politisch

Doch im nächsten Moment schon bricht ihr die Aussichtslosigkeit ihrer Situation das Herz: Für den Künstler ist sie nur ein Objekt, für den Eishockeyspieler sowieso. Beide wollen einzig ihren Körper – und das tut weh. Verständlich. Aber hätte man die zünftigen Wirtshausbilder, die derben Dialoge und all die Lieder, die vom schönen Leben erzählen, während Pollinger zur Prostituierten absteigt, nicht etwas deutlicher brechen müssen?

Aufgefangen wird die Wandlung dann vor allem in den letzten beiden Szenen. Hier wird Agnes Pollinger (eindrücklich gespielt von Natascha Kuch) plötzlich verletzlich. Mit einem Mal schreit sie, verzweifelt wie ein verwundetes Tier. Mit einem Mal ist sie resigniert, traumatisiert und sich selbst völlig fremd geworden. Hier wird dann nicht nur der Absturz einer Frau gezeigt, sondern auch ein ganzes Gesellschaftssystem demaskiert, das sie bis an den Rand getrieben hat.

Die Inszenierung fügt dem Stück dann noch einen alternativen Schluss hinzu, eine Variation der ersten Szene, in der ein Fremder Agnes den zuvor erwähnten Politikteil der Zeitung anbietet. Nur, dass Agnes Pollinger dieses Mal nicht mehr das naive Dummchen ist, das zu Beginn der Inszenierung auf der Bank saß. Stattdessen greift sie zu, sie interessiere sich schließlich für Politik – es ist der Beginn eines neuen Selbstverständnisses. Letztlich findet das Stück so doch noch zu seinem klaren, starken Schlussstatement.