Sein Erfolg kam unerwartet: Der Marienplatz ist der urbanste Ort der Stadt. Sein Kapital sind die Menschen, die ihn mit ihren Lebensstilen bevölkern.

Stuttgart - Er ist ein Glücksfall für Stuttgart. Er ist der seit Jahren boomende, urbanste Ort der Stadt und lockt an warmen Tagen und milden Nächten die Besucher in Scharen an. Sie sitzen in Cafés und Restaurants, hocken auf Bänken und Betonstufen und stehen mit dem Bier in der Hand auf der weiten Asphaltfläche. Und wenn es das Wetter besonders gut mit den Stadtbewohnern meint, sieht man vor lauter Menschen gar keinen Platz mehr. Man hört ihn dann eher. In der sich aus Hunderten von Gesprächen bildenden Geräuschkulisse nimmt er eine akustische Gestalt an, die keinen Zweifel an seiner Vitalität lässt. Ohne kommerziellen Überdruck – das kommt in Stuttgart selten vor – wird hier geredet, gelacht, geschäkert und gefeiert: Dieser Ort ist auch ein Glücksfall für die Menschen, die ihn bevölkern.

 

Damit war nicht unbedingt zu rechnen. Als der Marienplatz 2003 eingeweiht wurde, fielen die Kritiker mit Schmähungen über ihn her. Eine Mischung aus Exerziergelände und Betonwüste sei er, kalt, leblos und leer – und denkt man sich die Flaneure, Fußgänger und Fahrradfahrer weg¸ die heute das Herz des Südens beleben, bliebe von diesem Ort tatsächlich kaum mehr übrig als ein betonierter Verkehrsknotenpunkt. Was den Platz, nüchtern betrachtet, nämlich kennzeichnet, ist Asphalt, Asphalt, Asphalt, verteilt auf der Fläche zweier Fußballfelder, die von der Trasse der nach Degerloch führenden Zahnradbahn wie von einem Metzgerbeil zerhackt und von einer Eisdiele in Form einer geöffneten Muschel garniert wird. Den Rest der planierten, hufeisenförmig von einer Baumreihe umzingelten Einöde würde man höchstens als Zierrat wahrnehmen, mit dem die Platzgestalter ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen versuchten. Aber selbst das dürfte ihnen kaum gelungen sein. Dafür fallen die an den Rand gedrängten Beigaben – Sportplatz, Wasserspiele, Spielplatz – zu mickrig, dürftig und kümmerlich aus.

Er verführt nicht mit Schönheit, er lädt zum Erobern ein

Gestalterisch ist der von Autos umrauschte Marienplatz also eher ein Unfall, fast so abstoßend wie der Wilhelmsplatz in Bad Cannstatt – und eben kein Ort, der aus eigener Kraft zum Verweilen einladen könnte, wie es der Stuttgarter Schlossplatz tut. Dort lockt das städtebauliche Ensemble zur Rast auf den Grünanlagen rund um die Siegessäule. Aber hier, auf diesem Gelände mit dem Charme eines Großparkplatzes, laden keine architektonischen Sehenswürdigkeiten zum Bleiben und Genießen ein. Mit seiner Schönheit kann der Marienplatz die Menschen nur schwer verführen.

Nun, er macht ihnen – seine Hässlichkeit wohl oder übel in Kauf nehmend – ein ganz anderes Angebot: Er bietet sich ihnen zur Eroberung an! Und er spricht diese Hoffnung auch unverhohlen aus: Nehmt mich in Besitz! Seid so frei! Ich überlasse euch den gesamten leeren Raum – das ist das letztlich doch kluge Kalkül der Platzgestaltung, die ästhetisch so billig, sozial aber so reich und wertvoll ausgefallen ist.

Denn unwirtliche Orte, die erobert werden wollen, gibt es viele auf der Welt. Meist bleibt ihr Wunsch unerhört und nur die Unwirtlichkeit zurück, wovon viele gespenstisch verwaiste Plätze in den Städten zeugen. Am Marienplatz aber ging – nach einer schwierigen Startphase, wo auch ihm die Verödung drohte – das Eroberungskonzept auf. Aber warum gerade hier? Und anderswo nicht? Was ist das Geheimnis dieses merkwürdigen Ortes? Ist es nur, was naheliegend wäre, das reiche gastronomische Angebot, das ihn zum Hotspot macht?

Die Mischung der Milieus

Dass die Bars und Clubs, Cafés und Restaurants, die sich hier und in der angrenzenden Tübinger Straße angesiedelt haben, zur ungeheuren Attraktivität des Platzes beitragen, steht außer Frage. Aber wer sich das Eis schleckende, Bier trinkende, Pizza essende oder nur auf kahlen Betonbänken sitzende Publikum anschaut, stellt hocherfreut noch etwas anderes fest. Ob bei Tag oder Nacht: Die Marienplatz-Eroberer stammen aus allen gesellschaftlichen Schichten und verkörpern ganz unterschiedliche Lebensmodelle. Junge Mütter mit Kindern, Studenten, Hipster und Künstler, Angestellte und Beamte, Villenbesitzer und Obdachlose, Migranten und Nichtmigranten – wie kaum sonst in Stuttgart mischen sich an diesem staunenswerten Ort verschiedenste soziale Milieus zu einem lässig entspannten Miteinander.

Die unverhofft menschenverbindende Kraft des Asphalts hängt natürlich mit der herausgehobenen topografischen Lage des Marienplatzes zusammen. Als er 1876 angelegt wurde, war er das Bindeglied zwischen der repräsentativen Residenzstadt des Bürgertums und dem kleinen Arbeiterdorf Heslach, eine städtebauliche Brückenaufgabe, die er in abgewandelter Form bis heute erfüllt. Noch immer an der markanten Schnittstelle liegend, verbindet er mittlerweile aber auch die sich zu beiden Seiten ausbreitende klassische Stuttgarter Halbhöhe mit dem Stuttgarter Kessel. Im Süden grenzt die Wohngegend um die Alte Weinsteige, im Norden die nicht minder exklusive Hanglage der Karlshöhe an den Marienplatz und stößt dort auf das migrantisch geprägte Heslach im Westen. Nimmt man die aus dem Zentrum kommende Tübinger Straße dazu, dann strömen die Menschen also aus allen geografischen und sozialen Richtungen, Nischen und Winkeln auf das Areal im Talgrund zu – und verwandeln es eben auch in einen stets auf Hochtouren arbeitenden Melting Pot der Lebensstile und Kulturen.

Hier tickt die Stadt bunt, tolerant, uneitel, lebhaft

Wer wissen will, wie Stuttgart in guten Momenten tickt, als Stadt mit 600 000 Einwohnern, sollte deshalb hier seinen Kaffee trinken. In der kleinen Fußgängerwelt des Marienplatzes bekommt er eine Ahnung davon: Hier tickt die Landeshauptstadt, sonst von Feinstaubdebatten niedergedrückt, bunt, tolerant, uneitel und lebhaft.

Den Gegnern einer offenen, pluralen Stadtgesellschaft ist dieses Treiben ein Graus. Allen anderen ist der multikulturell pulsierende Mikrokosmos ein Vergnügen. Deshalb erobern sie den Marienplatz, der den Reichen und Schönen nicht als parfümierter Laufsteg dient, jeden Tag aufs Neue. Sie sitzen und reden und lassen es sich gut gehen. Sie fühlen sich frei und wohl: Am Marienplatz, dessen Kapital nicht Protzbauten, sondern Menschen sind, zeigt sich Stuttgart von seiner besten Seite.