Für viele ist es eine Horrorvorstellung: Einen Monat täglich 1000 Kilometer in einem Zugabteil zu sitzen. Manfred Weis aus Karlsruhe hat das im Jahr 1987 mit seinem Interrail-Ticket gepackt – ein ewiger Rekord. Noch heute nutzt er hauptsächlich die Bahn.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Karlsruhe - Für viele ist es eine Horrorvorstellung. Einen Monat täglich 1000 Kilometer in einem Zugabteil zu sitzen. Manfred Weis tickt anders. Der IT-Berater aus Karlsruhe hat vor 25 Jahren mit einem Interrail-Ticket Europa durchquert und in 31 Tagen 36 000 Kilometer geschafft. Sein Rekord ist bis heute ungebrochen.

 

Die Bahn ist noch immer für Manfred Weis die erste Wahl. Die Familie besitzt kein Auto. In den Urlaub geht’s am liebsten mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Weis und seine Frau Charlotte sind mit der Bahn nach China gereist. Fliegen sei nicht sein Ding. „Nachts an irgendeinem Flughafen anzukommen und gar nicht zu wissen, wo man ist, finde ich schrecklich“, sagt der 51-Jährige. Beim Bahnfahren hingegen komme die Seele immer gut hinterher.

Das Interrail-Ticket wird in diesem Jahr 40 Jahre alt. Inzwischen heißt es Interrail Global Pass und wird von der niederländischen Eurail-Gruppe vermarktet. 1972 war die Fahrkarte, die einen Monat lang europaweit gültig ist, für 235 Mark zu haben. Vor 25 Jahren hat Weis das Ticket für seine Marathontour 420 Mark gekostet. Aktuell gibt es zig Varianten. Der Klassiker, also freie Fahrt für einen Monat, kostet für Passagiere bis 25 Jahre 422 Euro. In seinem Rekordjahr war Weis einer von 326 000 Interrailern, im vergangenen Jahr wurden 248 000 Tickets ausgestellt.

Anlässlich des Jubiläums hat Eurail Weis noch mal zu einem Eurotrip eingeladen. 14 Tage war er mit seiner Frau und dem 15-jährigen Sohn Konstantin in Frankreich, Spanien, Portugal und Polen unterwegs. Er ist immer noch Interrail-Fan.

Er muss sich die Freude am Bahnfahren selbst erarbeiten

Zum Treffen in einem Café in der Karlsruher Stadtmitte kommt Weis, wie es sich für einen Automuffel gehört: mit dem Rad. Bei einem Milchkaffee mit Vanillearoma erzählt er seine Geschichte. Er kommt an der US-Ostküste als Sohn eines Deutschen und einer Griechin zur Welt. Der Vater ist ein leidenschaftlicher Autofahrer. Manfred Weis muss sich den Spaß an der Bahn selbst erarbeiten. Er fängt früh damit an.

Nach der Scheidung zieht die Mutter mit dem damals Dreijährigen nach Basel. Jeden Sommer reisen die beiden in einem Schlafwagen des Akropolis-Express in die Heimatstadt der Mama. Zwei Tage und zwei Nächte, mehr als 2000 Kilometer bis nach Athen. Der Kleine fährt brav mit. Einschlafen und wieder aufwachen – immer mit dem monotonen Rattern des Zugs. Essen im Speisewagen. Landschaften bestaunen. Neue Menschen kennenlernen. Im Süden Jugoslawiens winkt er den Bauern auf den Feldern zu, sie winken zurück. Einmal wird der Speisewagen vom Rest des   Zugs abgehängt. Dumm nur, dass Manfred gerade mit Mama diniert. Im Taxi fahren sie zum nächsten Bahnhof und erreichen gerade noch den Akropolis-Express.

Als Manfred zehn Jahre alt ist, zieht seine Mutter mit ihm nach Athen. Der Vater bringt bei seinen Besuchen im Sommer immer die neuesten Loks und Schienen aus dem Hause Märklin mit. Während die anderen Urlauber sich am Strand aalen, hantierten Vater und Sohn im Hotelzimmer mit den Miniaturzügen. In Griechenland spielt Bahnfahren im Alltagsleben der Menschen damals kaum eine Rolle. Manfred besucht die Deutsche Schule, in der Stadt ist er meistens mit dem Rad unterwegs. Überland fahren Busse.

Als Heranwachsender trifft er während der Sommerferien auf dem Peloponnes ein paar Gleichaltrige aus Holland. Sie erzählen von ihrer genialen Zugfahrkarte: einmal bezahlen und dann einen Monat durch Europa reisen. Weis weiß sofort: „Das will ich auch machen.“ Ein Klassenkamerad lässt sich begeistern. Im nächsten Sommer reisen sie mit dem Interrail-Ticket gen Norden. Nach Südfrankreich, ins Zentralmassiv, nach Paris, nach Amsterdam. Der Begleiter bleibt in Holland, er hat genug vom Zug. Weis will mehr. Der Schüler fährt weiter nach Brüssel und ist enttäuscht von dem viel zu kleinen Manneken Pis, besucht in Dänemark das Legoland, nimmt schließlich einen Zug zurück nach Athen.

Das Ticket in die große Freiheit

1980 der nächste Europatrip – diesmal mit zwei Kumpels, wieder rund 10 000 Kilometer. Weis ist inzwischen ein Bahnnarr geworden, studiert Kursbücher der europäischen Bahngesellschaften, fotografiert Züge, wo er nur kann. „Athen“, sagt er, „war damals weit weg und rückständig. Wir fühlten uns eingesperrt.“ Das Interrail-Ticket wird seine Fahrkarte in die große Freiheit.

Nach dem Abitur plant Weis sein Informatikstudium in Karlsruhe. Den Umzug erledigt er mit dem Zug: Wieder kauft er sich ein Interrail-Ticket und befördert seine wenigen Habseligkeiten zum Vater nach Basel. Dann geht es weiter nach Nordskandinavien und wieder zurück nach Athen. Auf der Etappe von München nach Wien muss es unbedingt der legendäre Orientexpress sein. Die Fahrt in die griechische Hauptstadt wird zur „tollsten Etappe überhaupt“, wie er sagt: Mit vier deutschen und zwei griechischen Interrailern steht er 24 Stunden lang im Gang. Sie haben dabei jede Menge Spaß, springen ab und zu vom langsam rollenden Zug, rennen hinterher und hangeln sich dann wieder an Bord.

Eigentlich ist Manfred Weis nun durch mit dem Thema Interrail. Er bereist lieber andere Kontinente. Doch 1987, das Studium ist inzwischen beendet, will er es noch mal wissen. Im November wird er 27, und dann wäre endgültig Schluss. Damals gelten die Tickets nur für Fahrgäste bis einschließlich 26 Jahren. Sein letzter Interrail-Trip soll ein ganz besonderer werden. In einem Artikel hat Weis von einem Interrail-Streckenrekord gelesen. Ein junger Mann aus Lörrach habe in einem Monat knapp 30 000 Kilometer geschafft, hieß es da. Er sei sternförmig in die entlegensten Winkel Europas gereist, an jedem erreichten Zielort wieder zurückgekehrt, um die Wäsche zu wechseln.

Am 20. September 1987 beginnt die große Reise

Der Entschluss steht: Weis will den Rekord, der im Guinnessbuch verewigt ist, mit einer „echten“ Reise brechen. Einmal durch den ganzen Kontinent. Bald ist die Route penibel ausgeknobelt: erst in den hohen Norden, dann Schottland, weiter nach Spanien und Portugal, dann Südfrankreich, runter bis nach Palermo auf Sizilien, wieder gen Norden, durch Jugoslawien, weiter in die alte griechische Heimat, schließlich über Österreich und die Schweiz zurück nach Baden-Württemberg.

Die Abenteuerreise durch ein Europa mit vielen Grenzkontrollen beginnt am Sonntag, 20. September 1987, um 0.22 Uhr in Hamburg und endet am Montag, 19. Oktober, um 23.16 Uhr in Kopenhagen – besser lässt sich das Ticket kaum ausnutzen. Die Redaktion des Guinnessbuchs verlangt als Nachweis ein Fahrtenbuch, das die Schaffner aller Züge abzeichnen müssen.

In Schweden wird ihm der Rucksack gestohlen, die Fahrt zurück nach Hause bringt ihm noch einige ungeplante Extrakilometer. In allen großen Städte macht er Station, meist einen halben Tag. Bei der Verwandtschaft in Athen erlaubt er sich sogar einen ganzen Tag Zugabstinenz. In Norwegen reist er mit einem einheimischen Rentierjäger, dessen Gewehr im Schlafwagen an der Wand lehnt. In Portugal trifft er einen Mann, der 15 Flaschen Whisky nach Frankreich schmuggelt. Im Hellas-Express trifft er einen Griechen, der ihm berichtet, dass er zurzeit ebenfalls hart an einem Rekord arbeite: Er habe mit seinem Arbeitskollegen gewettet, wer bis Weihnachten mehr Mädchen flachlege.

Ein extra Ticket für die Fahrt nach Hause

Die 30 000-Kilometer-Marke schafft Weis bereits ein paar Tage, bevor das Monatsticket verfällt. Er beschließt spontan, noch nach Finnland zu fahren. Auf der Rückfahrt, in Kopenhagen, läuft sein Ticket ab. Für den Weg nach Hause muss er noch einen extra Fahrschein lösen.

Ein paar Wochen später bestätigt ihm die Deutsche Bahn den Rekord: 36 030 Kilometer. 1988 werden der Name Manfred Weis und die Geschichte seiner verrückten Reise im Guinnessbuch abgedruckt.

Es ist Mittag geworden in dem Karlsruher Café. Manfred Weis sagt, Bahnreisen in Europa sei nach wie vor spitze, viele Züge seien heute viel schneller unterwegs und trotzdem nicht teuerer als vor 25 Jahren. Das Fazit, das er nach seiner jüngsten Tour mit der Familie zieht, ist eine Liebeserklärung ans Zugfahren. Auch der Filius sei nun ganz begeistert und wolle in zwei oder drei Jahren allein auf Interrail-Tour gehen. Der Vater empfiehlt ihm seine altmodische Variante: nichts buchen, sich vorher gut informieren und dann einfach los.