Das ist der Roman des Jahres Faszinierende Irrfahrt an den dunklen Grund der Existenz

Grenzerfahrungen im Dschungel zwischen Kunst und Wirklichkeit Foto: IMAGO/Cavan Images

Dorothee Elmigers Roman „Die Holländerinnen“ ist mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden. Manche Triumphe sind unauflöslich mit dem Scheitern verknüpft.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Man könnte auf die Idee kommen, Dorothee Elmigers Roman „Die Holländerinnen“ für eine verkappte Poetikvorlesung zu halten. Doch während es in solchen Unternehmungen normalerweise darum geht, die Betriebsgeheimnisse des Schreibens zu enthüllen, ist die „bedeutende Autorin“, die zu Beginn des Buches eingeladen worden ist, vor einem Auditorium über ihr Schaffen zu sprechen, in der unglücklichen Lage, dass sich dieses gerade im Stadium der Auflösung zu befinden scheint. Statt eine Theorie des Gelingens kann sie nur eine Demonstration des Scheiterns liefern. Erstaunlicherweise ist daraus der gerade völlig zu Recht mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Roman des Jahres geworden – vielleicht der verblüffendste Beweis für die schöpferische Kraft der Negativität.

 

Es lohnt sich also, den Ausführungen der bedeutenden Autorin zu folgen, und sie führen aus dem aufgeklärten Licht des Hörsaals in den Urwald. Denn dass ihr Schreiben auseinandergerissen wurde in einen Wust aus Fragmenten und Notizen, ist das Resultat einer Reise ins Herz der Finsternis. Dort, irgendwo im südamerikanischen Dschungel, sind Jahre zuvor zwei holländische Rucksacktouristinnen verschollen. Ein für seine radikalen Operationen im Grenzbereich zwischen Kunst und Wirklichkeit bekannter Theatermacher ist auf den Fall gestoßen und hat die Autorin gefragt, ob sie Teil eines Projekts sein möchte, das das Geschehen in einer Art „tropischer Passion“ rekonstruiert. Auch hier geht es also um die Erzählung einer Geschichte, der man nur, so die Idee des Theatermanns, in der existenziellen Wiederholung gerecht werden könne.

Dorothee Elmiger Foto: Arne Dedert/dpa

Und so macht sich also ein kleiner Produktionsstab auf, um den Spuren der jungen Frauen zu folgen. Doch der Weg in die unmittelbare Erfahrung ist verstellt von Reflexion. Bedeutende Vorgänger wie Joseph Conrad, Francis Ford Coppola, Werner Herzog, Klaus Kinski – um nur einige zu nennen – sind in Text, Film und Darstellung auf ähnlichem Terrain weit vorgedrungen. Aus der Wildnis tönt nicht nur das unheimliche Kreischen einer fremden Natur, sondern das Echo der Kultur. Je tiefer sich die Akteure im Ungewissen der tropischen Gegenwelt verstricken, desto undurchdringlicher wird das Dickicht aus realen oder fiktiven Zitaten, die den dunklen Grund der Existenz überwuchern.

Dorothee Elmiger erzählt von der Nachtseite des Fortschritts

Aber was tun, wenn die Angst übermächtig wird? Erzählen – und genau damit beginnen die Teilnehmer der Theaterexpedition, getreu der Devise des Regisseurs, wonach jeder Schauplatz, überhaupt alles eine unendliche Zahl potenzieller Geschichten in sich enthalte. Sie handeln von Begegnungen, in denen unvermittelt in alltäglichen Szenerien etwas aufbricht, und das Dunkle eindringt: sei es der Moment, in dem sich im Gesicht des Gegenübers plötzlich das Böse zeigt, Fortschritt in Barbarei kippt und ein kaputter Kühlschrank ein Leben aus der Bahn wirft – Szenen der Unterwerfung, der Gewalt und des Todes. Oft sind es Erzählungen von Erzählungen, die wiederum eingelassen sind in den Bericht der bedeutenden Autorin. Eine Schichtung des Indirekten verschleift schwindelerregend die Grenzen zwischen den verschiedenen Ebenen.

Es ist der paradoxe, ja wunderbare Effekt, dass in diesem Prozess der Verschiebung anschaulich wird, was sich der Darstellung entzieht: jenes schwarze Loch, das außerhalb der Sprache liegt, in dem die Holländerinnen verschwunden sind – „das erratische, grundlose Wesen der Welt“. Wie die Kamera Werner Herzogs in der legendären Schlusssequenz seines Films „Aguirre, der Zorn Gottes“ den Schauspieler Klaus Kinski, so umkreist Dorothee Elmiger in einem fragmentierten Zyklus das Zentrum der Negativität und was Kunst ihm entgegenzusetzen hat.

Zehn Tage dauert die Reise. Sie führt nirgendwo hin. Das Schreiben der bedeutenden Autorin ist an der Erfahrung der „ungeheuren Wirklichkeit“ zerbrochen. Doch die Bruchstücke hat Dorothee Elmiger zu etwas versammelt, das vom anderen Ende der Zeiten die klaftertiefe Nacht ausmisst, in die Jahrhunderte vorher ein Werk wie Giovanni Boccaccios „Decamerone“ das Licht der Erzählung getragen hat.

Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen. Hanser Verlag. 160 Seiten, 23 Euro.

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