Schuld daran sind der Staatsanwalt Franco Sebastio und die Untersuchungsrichterin Patrizia Todisco. Vor 13 Monaten haben sie den zentralen Teil des Stahlwerks Ilva, die „Heißverarbeitung“, beschlagnahmt: Umweltnormen seien nicht eingehalten worden, unvertretbare Risiken für Gesundheit und Umwelt geschaffen worden, Bürger und Behörden „aufs Gröbste getäuscht“, schrieben sie zur Begründung.

 

Praktisch alle Mitglieder der Eigentümerfamilie Riva kamen in Untersuchungshaft oder Hausarrest. Lokalpolitiker wurden festgenommen wegen Bestechlichkeit, Kungelei, Vernachlässigung der Kontroll- und Aufsichtspflicht. Selbst Gewerkschaften, Journalisten und die Kirche sollen sich haben kaufen lassen. Nicht nur 11 500 Ilva-Beschäftigte, auch 8000 Angehörige von Subunternehmen fürchteten um ihren Job. Würde Ilva unter diesen Umständen fortbestehen? Und der Industriehafen, der ohne Industrie keinen Sinn hat?

Es folgte ein Wettrennen zwischen Regierung und Richterin. Weil das fünfzig Jahre alte Stahlwerk der einzige bedeutende Arbeitgeber in dieser entlegenen Ecke des Südens ist und weil Ilva allein mehr als zwei Drittel des italienischen Stahlbedarfs abdeckt, versuchte Rom – per Notgesetz und neuer Umweltauflagen – die Produktion um jeden Preis zu erhalten. Das Werk sei „von strategischer, nationaler Bedeutung“, erklärten Mario Montis Technokraten-Kabinett und das Parlament an Heiligabend 2012.

Die Richterin beschlagnahmte 8,1 Milliarden Euro

Die Richterin wiederum unterstellte die Firma einigen „Garanten der Justiz“ und zog im Interesse von Gesundheit und Umwelt vor das Verfassungsgericht, um Montis Gesetz auszuhebeln. Als sie dort abblitzte, gab sie nach monatelangem Widerstreben zwar die gewaltigen Lagerbestände von Ilva zum Verkauf und zur Weiterverarbeitung frei. Sie beschlagnahmte aber 8,1 Milliarden Euro beim Riva-Konzern selbst. Daraufhin traten Vorstand und sämtliche Abteilungsleiter von Ilva zurück. Das Werk produziert zwar weiter, aber ohne Führung. „Die acht Milliarden sind nötig, um die Sanierung des vergifteten Terrains sicherzustellen“, befand die Richterin. „Das Geld fehlt jetzt, um Ilva weiterzuführen und umweltfreundlich zu modernisieren“, kritisieren dagegen Gewerkschaften und Arbeitgeber.

In der Nähe zu den Wohnblöcken häufen sich seine riesigen Halden mit allen möglichen Mineralien auf, die ein Stahlwerk und seine Kokerei so brauchen. „Wenn der Nordwind kommt, dann fährt das alles in dicken Wolken hoch“, sagt ein Anwohner. „Wir haben die dichtesten Fensterrahmen eingebaut, die es gibt. Aber der Staub kommt überall rein.“ Auch in die Lungen. „Und schauen Sie, wie rot die Piniennadeln sind, wie schwarz die Balkone, wie dreckig die Fassaden.“

Der Dreck rieselt auf die Stadt hinab

Abends unter den Laternen, sagt der Mann weiter, „können Sie sehen, wie der ganze feine Dreck runterrieselt“. Und wenn kein Wind weht, ergänzt seine Frau, „dann liegen die Abgase ganz zäh über uns: das Dioxin. Schreiben Sie das ruhig: Wir leben hier wie unter einer Atombombe.“

Dabei macht die Stahlstadt Taranto, da unten an der Sohle des italienischen Stiefels, alles andere als einen grauen und düsteren Eindruck. Im Süden wird sie vom türkisfarbenen, glasklaren Wasser des „Großen Meers“ umspült, auf der anderen Seite vom lagunenartigen „Kleinen Meer“. Von den steinernen Barockpalästen auf der zentralen Altstadtinsel sind zwar viele verfallen, das ist typisch für Süditalien, aber die Bombenlücken, die der Zweite Weltkrieg in die großen Biedermeierviertel daneben gerissen hat, sind mit neuer Architektur so harmonisch gefüllt, wie man es sonst weder aus Italien noch aus Deutschland kennt. Die Feinstaub-Grenzwerte werden im gewohnten Smog von Mailand und Turin jedes Jahr dreimal so oft überschritten wie in Taranto. Wenig Müll liegt hier herum, die Straßen sind gekehrt. Geld scheint vorhanden. Die Geschäfte an der Fußgängerzone sehen nach Wohlstand aus. Nur auffallend viele Schilder mit der Aufschrift „Zu verkaufen“ hängen in Läden und an Wohnhäusern, denn Taranto ist in die Existenzkrise gestürzt. Oder: nach Jahrzehnten der Verdrängung hat Taranto sie erstmals wahrgenommen.

Die Eigentümer kamen in Haft oder erhielten Hausarrest

Schuld daran sind der Staatsanwalt Franco Sebastio und die Untersuchungsrichterin Patrizia Todisco. Vor 13 Monaten haben sie den zentralen Teil des Stahlwerks Ilva, die „Heißverarbeitung“, beschlagnahmt: Umweltnormen seien nicht eingehalten worden, unvertretbare Risiken für Gesundheit und Umwelt geschaffen worden, Bürger und Behörden „aufs Gröbste getäuscht“, schrieben sie zur Begründung.

Praktisch alle Mitglieder der Eigentümerfamilie Riva kamen in Untersuchungshaft oder Hausarrest. Lokalpolitiker wurden festgenommen wegen Bestechlichkeit, Kungelei, Vernachlässigung der Kontroll- und Aufsichtspflicht. Selbst Gewerkschaften, Journalisten und die Kirche sollen sich haben kaufen lassen. Nicht nur 11 500 Ilva-Beschäftigte, auch 8000 Angehörige von Subunternehmen fürchteten um ihren Job. Würde Ilva unter diesen Umständen fortbestehen? Und der Industriehafen, der ohne Industrie keinen Sinn hat?

Es folgte ein Wettrennen zwischen Regierung und Richterin. Weil das fünfzig Jahre alte Stahlwerk der einzige bedeutende Arbeitgeber in dieser entlegenen Ecke des Südens ist und weil Ilva allein mehr als zwei Drittel des italienischen Stahlbedarfs abdeckt, versuchte Rom – per Notgesetz und neuer Umweltauflagen – die Produktion um jeden Preis zu erhalten. Das Werk sei „von strategischer, nationaler Bedeutung“, erklärten Mario Montis Technokraten-Kabinett und das Parlament an Heiligabend 2012.

Die Richterin beschlagnahmte 8,1 Milliarden Euro

Die Richterin wiederum unterstellte die Firma einigen „Garanten der Justiz“ und zog im Interesse von Gesundheit und Umwelt vor das Verfassungsgericht, um Montis Gesetz auszuhebeln. Als sie dort abblitzte, gab sie nach monatelangem Widerstreben zwar die gewaltigen Lagerbestände von Ilva zum Verkauf und zur Weiterverarbeitung frei. Sie beschlagnahmte aber 8,1 Milliarden Euro beim Riva-Konzern selbst. Daraufhin traten Vorstand und sämtliche Abteilungsleiter von Ilva zurück. Das Werk produziert zwar weiter, aber ohne Führung. „Die acht Milliarden sind nötig, um die Sanierung des vergifteten Terrains sicherzustellen“, befand die Richterin. „Das Geld fehlt jetzt, um Ilva weiterzuführen und umweltfreundlich zu modernisieren“, kritisieren dagegen Gewerkschaften und Arbeitgeber.

Und Taranto ist gespalten. „Schließen sollen sie den Kasten!“, verlangen die einen. Die anderen entgegnen: „Ohne Ilva ist hier nur Elend.“ „Wir stehen vor der Wahl, an Hunger oder an Tumoren zu sterben. Bisher haben wir das Zweite vorgezogen“, sagt ein Gemüsehändler in Tamburi, der seine Tomaten wie alle hier offen an der Straße ausliegen hat. Er zuckt mit den Schultern: „Was können wir schon machen?“ An jenem Referendum über die Schließung Ilvas, das die Umweltorganisationen in der Stadt seit Jahren gefordert haben und das die Stadtverwaltung über genauso viele Jahre verzögert hat, beteiligten sich Mitte April nur 20 Prozent der Tarantiner. „Aus Ignoranz und aus Angst vor sozialer Kontrolle“, sagt der frühere Sportlehrer Fabio Matacchiera, der heute als professioneller Umweltschützer einen „Anti-Dioxin-Fonds“ leitet. „Weil sich die einzelnen Bürger bei einer Entscheidung von solcher Tragweite überfordert fühlen“, sagt Francesco Murgino, der örtliche Direktor des Unternehmerverbandes Confindustria.

Eine deutlich erhöhte Krebshäufigkeit bei den Tarantinern

Mancher wünscht sich, die Expertenstudien lägen falsch. Sie stellen – je nach Art – eine um 14 bis 400 Prozent höhere Krebshäufigkeit bei den Tarantinern gegenüber dem italienischen Standard fest. „Es gibt so viele Untersuchungen“, philosophiert Direktor Murgino, und der Gewerkschafter Mimmo Panarelli erklärt: „Wir sind noch lange nicht an der Wahrheit dran. Wir haben nur das belastende Material der Staatsanwaltschaft, also der Anklagebehörde. Die haben ihre eigenen, ganz speziellen Grenzwerte angewendet. Die von Ilva selbst angestellten Untersuchungen fehlen noch.“

Und während Murgino genauso wie Panarelli meint, dass nach Verwirklichung aller 94 gesetzlichen Umweltauflagen und nach dem faktischen Vorziehen neuer EU-Richtlinien Ilva in Zukunft „das modernste Stahlwerk Europas“ sein werde, glaubt der Umweltschützer Matacchiera dem Konzern gar nichts mehr. „Die haben bisher, obwohl sie schon seit dreißig Jahren von den Gefahren wussten, nichts getan. Auch mit den neuen Umweltpflichten sind sie schon ein halbes Jahr im Rückstand. Die wollen überhaupt nicht“, schimpft er. Selbst unter dem neuen Spezialkommissar, den Italiens Regierung diese Woche mit der Unternehmensführung beauftragt hat, werde es „auch nur wieder einen Aufschub nach dem anderen geben“, so Matacchiera. Die Eigentümerfamilie Riva ist jedenfalls nach diesem Schachzug entmachtet.

Einig ist sich ganz Taranto, dass alles noch viel schlimmer war, als Ilva noch „Italsider“ hieß und bis zur Privatisierung im Jahr 1995 unter staatlicher Regie stand. „Da war’s ein Schrotthaufen“, sagen die alten Männer auf der Straße. „Da hat das 500 Kilometer entfernte Rom gar nicht auf die Folgen dieser Industrialisierung geachtet“, ärgert sich Direktor Murgino von Confindustria. „Die lokalen Behörden aber waren mit einem solchen Riesenkoloss überfordert. Und wenn, wie die Gerichtsgutachter heute festhalten, mit den Dioxin-Emissionen keine Gesetze verletzt worden sind, dann lag das an den Gesetzen“, sagt Murgino weiter.

Die Familie Riva, „das beweisen die Bilanzen“, habe danach zwar eine Milliarde Euro in Umweltmodernisierungen im Werk gesteckt, „aber ein Privatunternehmer tut halt auch nur das Minimum, um die Gesetze einzuhalten. Wer kontrollieren sollte, hat nicht kontrolliert. So sind möglicherweise irreparable Schäden entstanden.“

Wer hat die Miesmuscheln mit Dioxin verseucht

Aber wer weiß schon, ob alles Unheil wirklich von Ilva kommt? „Der ferne Staat hat uns mit seinen Unternehmen regelrecht umzingelt und verwüstet“, sagen sie in Taranto. Da waren die großen Schiffswerften, da ist seit gut hundert Jahren der riesige Stützpunkt der italienischen Kriegsmarine, da ist ein gewaltiges Zementwerk, da ist die Raffinerie. „Die stellt auch nicht gerade Bonbons her“, sagt der Gewerkschafter Panarelli. Und die berühmten Tarantiner Miesmuscheln, die im „Kleinen Meer“ mit seinem geringen Salzgehalt zu einem derart unvergleichlichen Aroma heranreiften, dass manche Einheimische „nie im Leben andere“ essen wollten, wer hat sie wirklich mit Dioxin verseucht, mit PCB und anderem Teufelszeug? Und woher stammen die Miesmuscheln, die heute an den Straßenecken verkauft werden, in dicken, schwarz glänzenden Trauben, frisch aus dem Wasser gezogen und mit einem feuchten Tuch vor der Sonne geschützt?

Wand an Wand mit Ilva liegt der Friedhof von Taranto. Wie die Kinder, so dürfen auch die Totengräber kein Erdreich anfassen. Jedenfalls solange sie nicht die Antigift-Spezialausrüstung haben. So hat es der Bürgermeister angeordnet. Die Toten liegen so lange auf Eis. Und zwischen den bis zu fünfstöckigen Begräbnishäusern riecht es nicht nur nach Ilva. Hier bricht und verstärkt sich vielfach das mächtige Rumoren, das aus dem Stahlwerk dringt, wie der Motorenlärm eines tonnenschweren Generators. An manchen Stellen dröhnt es so, als schwebte über einem ein Hubschrauber. Die Gemeinde hat einen kleinen Gedenkstein aufgestellt: „Für alle, die, geopfert von der Arbeit, ihr Leben verlieren.“ Da steht nicht „verloren haben“, sondern ein Präsens. Gegenwart. Die Gegenwart von Taranto.