Das Kunstmuseum Stuttgart widmet sich den verschiedenen Spielarten der Ekstase und gewährt auch dem Publikum Moment des Außersichseins.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Das Schöne kann so hässlich sein. Dem einen hängt die Zunge heraus, der andere hat die Augen verdreht. Einige der Männer pressen die Kiefer aufeinander, meistens ist der Kopf aber nach hinten gekippt, Mund auf, Augen zu. Aura Rosenberg zeigt Männer beim Intimsten, sie haben sich in den wenigen Sekunden, die ein Orgasmus dauert, fotografiert. Im Kunstmuseum Stuttgart hängen die „Head Shots“ (1991-1995) nun nebeneinander und zeigen eine andere Wirklichkeit: Die angeblich süße Lust scheint auch eine aufreibende, anstrengende, zwiespältige Angelegenheit zu sein. Positive Verzückung ist keinem der Gesichter abzulesen.

 

Aber sobald der Mensch sich in sein Inneres zurückzieht, schwindet eben auch die Kontrolle über den Leib, weshalb man im Kunstmuseum Stuttgart allerhand verzückten, entrückten, ausgelassenen oder auch in sich versponnenen Gestalten begegnet, die beten, tanzen, feiern oder im Drogenrausch sind. Denn die neue Ausstellung dort widmet sich einem Thema, das die Menschheit von Beginn an begleitet: Ekstase. Ein Ausnahmezustand, in dem die gesellschaftlichen Schranken fallen und der Mensch in ungekannte Bewusstseinszustände vordringt.

Im Kunstmuseum wird anhand künstlerischer Werke eine kleine Kulturgeschichte der Ekstase erzählt. Dabei haben die Direktorin Ulrike Groos und die Kuratorin Anne Vieth den Berliner Kurator Markus Müller hinzugezogen. Über mehrere Stockwerke nehmen sie nun einen Streifzug von der Antike bis in die Gegenwart vor, vom trinkfreudigen Weingott Bacchus bis zu Carsten Höller, der sich für eine Videoarbeit einen Fliegenpilz angebraten hat.

Auch in früheren Zeiten kam es im Rausch zu sexuellen Übergriffen

Sex, Drugs, Rave, aber auch Religion, Schamanismus und Sport werden in einzelnen Kapiteln abgehandelt. Die Beispiele aus verschiedensten Epochen machen deutlich, dass sich das Bedürfnis nach Entgrenzung durch die Jahrhunderte und auch durch die Kulturen zieht. Wenn sich der lüsterne Dionysos auf einem Gemälde von Gérard de Lairesse aus dem 17. Jahrhundert über ein betrunkenes Mädchen im Tiefschlaf hermacht, dann ist das nicht weit entfernt von den heutigen Schreckensmeldungen über sexuelle Gewaltexzesse.

Wehe, wenn sie losgelassen – doch die Fußballfans, die Andreas Gursky auf einer gigantischen, überbevölkerten Fotografie im Fußballstadion zeigt, warten noch auf den Rausch, den kollektiven Jubel, der schon bald angepfiffen werden wird. Einen Rausch anderer Art erleben die Protagonisten in der Sektion zu Alkohol und Drogen. Auf Albert Maignans Gemälde „Die grüne Fee“ (1895) ergreift etwa ein Geistwesen den Kopf eines jungen Mannes. Er hat zuviel getrunken, die Dinge sind ihm entglitten, der brennende Ofen offen, die Flasche geborsten am Boden, die Papiere verstreut – er aber ist selig verzückt. Carsten Höller geht es nach dem Genuss seines Fliegenpilzragouts hingegen weniger gut, er fühlt sich „wie ausgeknipst“.

Die Bildende Kunst ist prädestiniert dafür, das Thema Ekstase zu exemplifizieren, schließlich versuchen Künstlerinnen und Künstler immer wieder, gesellschaftliche Konventionen zu überwinden und in neue Bewusstseinsebenen vorzudringen. Für ihre Videoarbeit „Freeing the Body“ tanzte Marina Abramovic in den siebziger Jahren bis zur Erschöpfung nackt zu afrikanischen Trommelrhythmen. Wie schon die Ausdruckstänzerinnen in den 1920-er Jahren wollte auch sie den Körper befreien und über die enthemmte Bewegung einen ekstatischen Zustand erreichen. Ein Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner erinnert an den „Totentanz der Mary Wigman“ (1926/28). Und Charlotte Berend-Corinth, die vor allem als Modell ihres Mannes Lovis bekannt wurde, ist hier ausnahmsweise mit eigenen künstlerischen Arbeiten vertreten: Ihre Lithografien zeigen die Tänzerin Anita Berber als entspannte, selbstbewusste, aber auch zeigefreudige Person.

Auch Besessenheitsfeste in Brasilien tauchen in der Ausstellung auf

Die drei Kuratoren können zwar nicht wirklich Neues erzählen über das Phänomen Ekstase, schließlich ist jeder Mensch auf seine Weise Experte bei dem Thema. Aber sie haben mit vielen internationalen Positionen einen anregenden Parcours inszeniert, in dem die Aspekte Religion, Sport, Liebe oder Jugendkultur mit vielen Querbezügen durchdekliniert werden. Malerei, Fotografie, Skulptur und Video wechseln sich ab, aber hinter einem meterhohen, neugierig machenden Vorhang werden auch mal Zeichnungen präsentiert – wie Gian Lorenzo Berninis „Heilige Theresa“ von 1646/47.

Im Kunstbetrieb immer noch eine Seltenheit: Ein kleiner Exkurs rückt auch eine fremde Kultur ins Bewusstsein. Der Künstler Ayrson Heráclito hat einen Raum zu der afrobrasilianischen Religion Candomblé gestaltet und erinnert hier an die Besessenheitsfeste der Gläubigen.

Bei so viel rauschhafter Selbstvergessenheit darf ein wenig Selbsterfahrung nicht fehlen. Im Obergeschoss heißt es Schuhe ausziehen für das „Dream House“ von Marian Zazeela und La Monte Young. In dem mit weißem Teppichboden ausgelegten Raum werfen Objekte zarte Schatten an die Wände, und das Sonnenlicht, das durch die eingefärbten Glastüren fällt, färbt den Raum in wohlige Pastelltöne.

Der Komponist La Monte Young , dessen Musik auf mathematischen Berechnungen basiert, schickt im „Dream House“ sich überlagernde Sinuswellen in den Raum, die von Generatoren erzeugt werden. Angenehm ist das nicht, da riskiert man lieber einen Besuch bei Carsten Höllers „Lightwall“, wo zahllose Glühbirnen in Hochgeschwindigkeit blinken – in Frequenzen, die beim Menschen Halluzinationen, Heiterkeit, Kopfschmerzen oder ekstatische Tanzexzesse auslösen können.