Im Tübinger Leibniz Kolleg leben und lernen 53 junge Menschen unter einem Dach. Die Studenten schlafen in kargen Zweibettzimmern, teilen sich sechs Duschen und entscheiden basisdemokratisch, ob das Mineralwasser in Glas- oder Plastikflaschen gekauft wird.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Tübingen - Das Erste, was Jelle Sentker erblickte, als er das dreistöckige Haus unterhalb des Österbergs betrat, war jemand, der in der Küche zu „Hound Dog“ von Elvis Presley tanzte. Es war heller Nachmittag, zwei oder drei Uhr, und der Typ war nur mit einer Unterhose bekleidet. Das fand der Gymnasiast Jelle echt cool, und er beschloss, sich nach dem Abitur am Leibniz Kolleg zu bewerben.

 

Tübingen ist eine Stadt des freien Geistes, und in der Brunnenstraße 34 konzentriert sich das alternativ-akademische Lebensgefühl. Seit 1948 bietet das Leibniz Kolleg 53 jungen Menschen ein – wie es offiziell heißt – „einjähriges Studium generale und sociale“ an. Einzigartig in der deutschen Universitätslandschaft ist die Kombination aus breitem Bildungsangebot und riesiger Wohngemeinschaft unter einem Dach. Die Studenten kommen von überall: Jelle aus Hamburg, Johann aus Leipzig, Gayané aus der Schweiz, David ist in Italien aufgewachsen, Theresia wohnte zuletzt in Buenos Aires . . .

Zunächst sind sie sich alle fremd. Die Kollegleitung verteilt sie – nach Geschlechtern getrennt – auf karge Zweibettzimmer. Wer wann eine der sechs verratzten Duschen und den zickigen Gasherd benutzen darf, müssen die WG-Bewohner unter sich ausmachen. So lernen sie vom ersten Tag an, miteinander klarzukommen, Kompromisse einzugehen, Rücksicht zu nehmen.

Für die wissenschaftliche Ausbildung gibt es einen großen Seminarraum, Refektorium genannt. Auf dem Lehrplan stehen Astronomie und Architektur, Kulturwissenschaft und Wirtschaftsethik, Psychologie und Theologie – um nur ein paar Gebiete zu nennen. Nach den Kursen wird ohne Dozent in der Küche bei billigem Bier und (überwiegend) vegetarischem Essen weiterdiskutiert.

Lernen um des Lernen willens

In der Bibliothek geht es einigermaßen leise zu. Lucina Diehl sitzt auf einem antiken Stuhl, liest Simone de Beauvoir, trinkt Kaffee und erzählt nebenbei, dass es sie ohne das Leibniz Kolleg nicht gäbe: Anfang der achtziger Jahre haben sich ihre Eltern hier kennengelernt, auf einer 90 Zentimeter breiten Federkernmatratze kamen sie sich näher. Die einstige Studentenliebe hält bis heute. Vor einiger Zeit begleitete Lucina ihre Eltern zu einem Treffen von Alt-Keksen – „Kekse“ nennen sie sich spaßeshalber wegen Leibniz. Anschließend wollte die Tochter ein Jung-Keks werden, „weil mich die Atmosphäre sofort begeistert hat“.

Lucina hat ihr Abitur in Göttingen mit einem Durchschnitt von 1,0 gemacht, jede deutsche Universität und jeder Studiengang hätten ihr offengestanden. Doch nach dem G-8-Megastress, dem ständigen Druck, der Disziplin, die sie sich selbst abgefordert hatte, wollte sie nicht einfach weiterpauken, sondern entdecken, was abseits des geraden Bildungspfades liegt. „Es war wichtig, dass ich den Spaß am Lernen wiederfinde“, sagt sie. „Lernen um des Lernens willen und nicht für eine Note.“

Die Tür geht auf, Jelle Sentker kommt rein. „Hi, Lucy.“ – „Hi, Jelle. Willst du eine Tasse Kaffee?“ Nach neun Monaten auf engstem Raum kennt jeder jeden in- und auswendig. Wenn 53 Leute, die fast oder gerade volljährig sind, rund um die Uhr miteinander wohnen und lernen, geht zwangsläufig die Privatsphäre verloren, die Grenze zwischen Mein und Dein verwischt. Kochen funktioniert zum Beispiel so: Ein paar Leute kaufen auf eigene Rechnung irgendwas ein, dann wird alles zusammengeschmissen und zu einem Gemeinschaftsessen verrührt. Wer nichts hat, bringt neben seinem Appetit eben seine Arbeitskraft mit ein. Karl Marx hätte dieses System sicherlich gefallen: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.

Donnerstagabends, 20 Uhr c. t., trifft sich die Gruppe zum Konvent. Anfangs saßen die Studenten geschlagene sechs Stunden beisammen und diskutierten, wie künftig diskutiert werden solle. Danach wurde beschlossen, dass die Runden bis Mitternacht beendet sein müssen, was freilich nichts daran änderte, dass über jede Banalität debattiert wird, als würde der Weltfrieden davon abhängen: Darf die Getränkekommission Mineralwasser auch in Plastikflaschen kaufen, oder ist nur Glas erlaubt? „Selbst zu solchen Fragen gibt es bei uns viele Meinungen“, sagt Jelle.

An Konflikten wächst man

Leibnizianer reden sich zehn Monate lang über alles Mögliche die Münder fusselig. Selbst nachts um vier sitzt garantiert noch eine kleine Schar in der Küche, die sich über Donald Trumps Tweets, die Sinnhaftigkeit eines Frauenbadetages oder die Länge einer Kosinuswelle austauscht. „Man ist hier ständig gezwungen, jeden Gedanken in Worte zu kleiden“, sagt Jelle. „Durch die Konfrontation mit dem anderen reflektiert man sich selbst.“

In dem großen Miteinander kracht es zwangsläufig auch mal. Etwa, als Lucina ein Paket geöffnet hatte, das an Jelle adressiert war. Diese Form des Kollektivismus gehe dann doch zu weit, fand er und wurde laut. Sie lief eingeschnappt in ihr Zimmer, hielt es darin aber nicht lange aus: „Komm, Jelle, lass uns noch mal ganz sachlich miteinander reden.“ – „Ich habe wohl etwas überreagiert.“ An Konflikten wächst man.

Zum WG-Alltag gehört natürlich auch, dass irgendwer die leeren Bierflaschen einsammeln muss, die nach einer nächtlichen Geselligkeit im Vorgarten herumliegen. Und der Clubraum sieht aus, als hätte sich eine Affenhorde ausgetobt: Kein Sofapolster liegt noch dort, wo es eigentlich hingehört. Wer beseitigt dieses Chaos, bevor die Hausmeisterin, Frau Orlista, meckert?

Jelle jedenfalls nicht, denn er muss dem Besucher sein Zimmer zeigen: zwölf Quadratmeter, zwei Betten, ein Schrank, ein Stuhl, ein Tisch. An der Wand ein vergilbtes Backstreet-Boys-Poster von der 97er-Tournee, da war Jelle noch nicht einmal auf der Welt. Sein Zimmergenosse Johann trägt eine Baseballkappe und hört Straßen-Rap. Auf den ersten Blick könnte man ihn für einen dieser Halbstarken halten, die in Fußgängerzonen herumlungern und ihre leer getrunkenen Red-Bull-Dosen aufs Trottoir werfen. In Wahrheit ist er ein Intellektueller. Als Johann für einen Kurs die Einleitung von Nietzsches „Genealogie der Moral“ lesen sollte, hat er gleich das ganze philosophische Werk verschlungen. Das Regalbrett über seinem Bett biegt sich unter den Klassikern von Goethe, Zweig, Hesse . . . „Johann und ich saßen schon viele Abende am offenen Fenster und haben stundenlang über das Sein, den Sinn und die Liebe gesprochen“, erzählt Jelle.

Auslandsjahr statt Universität

Am Leibniz Kolleg gibt es niemanden, der von Ideenlosigkeit geplagt wird, dafür viele, die allerhand Talente und Interessen haben, aber (noch) nicht wissen, was ihr größtes Talent und tiefstes Interesse ist. Das Studium generale soll ihnen Orientierung geben, indem es den Blick weitet. „Man lernt hier, die Erleuchtung zu suchen“, sagt Lucina, „aber sie wird einem nicht auf dem Silbertablett serviert.“

Ihrem Bewerbungsschreiben für das Kolleg stellte Lucina ein Zitat aus „Alice in Wonderland“ voran: „I can’t explain myself.“ Nun, etwa ein Jahr später, kann sich die 19-Jährige tatsächlich – zumindest ein Stück weit – selbst erklären. Ihr sei bewusst geworden, dass sie vor allem „nach dem Ursprung und der Beeinflussbarkeit der menschlichen Identität“ suche, sagt sie: „Woher kommt eigentlich die Vorstellung, dass etwas Bestimmtes die eigene Welt ist? Wie sehen fremde Welten aus?“

Als Lucina kürzlich den Entschluss gefasst hatte, dass sie nach dem Kolleg im Rahmen der internationalen Freiwilligendienste nach Gambia gehen will, waren ihre Eltern nicht begeistert. Wäre es nicht an der Zeit, ein reguläres Hochschulstudium zu beginnen? Nö, meinte die Tochter, bevor sie sich für Afrikanistik einschreibe, wolle sie Afrika erst mal hautnah erfahren.

Rund 2500 Euro muss Lucina für ihr Auslandsjahr zusammenkratzen. Unlängst war sie mit einigen Mitbewohnern beim Blutspenden, das hat ein bisschen was eingebracht. Die Aktion soll bald wiederholt werden. Ein pathetischeres Bild für die Verbundenheit, die zwischen den Kollegiaten entstanden ist, ließe sich kaum erdichten: Sie geben ihr Blut füreinander. „Die Menschen hier sind fast wie eine zweite Familie für mich“, sagt Lucina, „und das Kolleg ist wie ein zweites Zuhause.“

Abschied vom Kolleg

In den ersten Monaten teilte sie sich mit Katharina ein Zimmer, nun schläft sie eine Armlänge von David entfernt. Ein Paar sind die beiden nicht, bloß gute Freunde. Andere haben sich ineinander verliebt, wohnen aber nicht im selben Zimmer. Peer ist beispielsweise mit Sarah zusammen, aber Sarah schläft bei Lotte. Ist ja eh nur vorübergehend: Ende Juli müssen sie alle ausziehen, um dem folgenden Kursjahrgang Platz zu machen. „Sicher werden wir einander fehlen“, sagt Lucina. „Aber ich bin auch neugierig darauf, was die anderen mit ihrem Leben anfangen werden.“

Kaum ein Absolvent des Leibniz Kollegs sucht den direkten Weg in einen sicheren Job. Man macht nicht Karriere, sondern was man will: Johann wird sich für Kunstgeschichte und Philosophie einschreiben, Eva deutsch-französische Wirtschaftspolitik in Nancy studieren, Amelie hat sich in Maastricht für Liberal Arts and Sciences beworben. Und Jelle? „Ich will erst mal um die Welt reisen und jobben“, sagt er. „Nach zwölf Jahren Schule und einem Jahr Studium generale glaube ich, dass ich mir jetzt etwas weltliches Wissen aneignen sollte.“

Ja, sagt Lucina, das Leben am Kolleg sei schon sehr vergeistigt: „Es wäre sicherlich schön, wenn man zwischendurch auch mal was mit den Händen schaffen könnte – und nicht bloß mit dem Kopf.“ Wie wird sich die junge Frau nach dieser Tübingen-Erfahrung in Gambia zurechtfinden, einem bettelarmen Land, das sich gerade erst aus einer Diktatur befreien konnte? Lucina sagt, später würde sie gerne für Amnesty International oder die Vereinten Nationen arbeiten. Vielleicht war das Leibniz Kolleg ein erster Schritt dorthin. Sie wird das Haus unterhalb des Österbergs gewiss nicht so verlassen, wie sie es vor zehn Monaten betreten hat. Lucina weiß jetzt, wo sie hinwill.

Informationen zum Leibniz Kolleg

Historie:
Das Gebäude in der Tübinger Brunnenstraße 34 wurde gegen Ende der Weimarer Republik vom Architekten Paul Schmitthenner, neben Paul Bonatz ein Hauptvertreter der Stuttgarter Schule, als „Deutsche Burse“ für Ausländerdeutsche erbaut. Auf Betreiben der französischen Militärregierung wurde in dem Haus 1948 das Leibniz Kolleg gegründet, um der Nachkriegsgeneration ein neues demokratisches Verständnis zu vermitteln. Im Rahmen des Studium generale wohnen hier bis heute 53 Kollegiaten von Oktober bis Juli und besuchen Seminare im Refektorium.

Zukunft
: Das Kolleg wurde bis zum vergangenen Jahr durch eine Stiftung getragen, deren Vermögen mit der Zeit zusammengeschmolzen ist. Um seine Existenz zu sichern, wurde es zum 1. Oktober in eine Einrichtung der Universität Tübingen umgewandelt. Weil das denkmalgeschützte Gebäude aufwendig saniert werden müsste, soll in den kommenden Jahren ein Neubau an der Wilhelmstraße entstehen. Dort könnten 90 Kollegiaten unterkommen. Kritiker befürchten, dass die Institution durch diese Veränderungen ihren einmaligen Charakter verlieren könnte.

Aufnahme:
Voraussetzung für eine Bewerbung am Kolleg ist die allgemeine Hochschulreife oder ein als gleichwertig anerkannter Abschluss. Entscheidend für die Aufnahme sind nicht nur schriftliche Unterlagen, sondern auch Gespräche, die die Kollegleitung sowie Studenten des laufenden Kurses mit den Bewerbern führen. Das Studienjahr kostet 5300 Euro. Es gibt die Möglichkeit, ein Stipendium zu beantragen. Die Bewerbungsfrist für den nächsten Kurs endet am 14. Juli.