Eines der berühmtesten Liebespaare der französischen Literaturgeschichte – Arthur Rimbaud und Paul Verlaine – beendete vor 150 Jahren in Stuttgart seine „amour fou“.

Der junge Franzose muss auf seine Umgebung keinen allzu vertrauenserweckenden Eindruck gemacht haben. Jugendlich keck gekleidet, wahrscheinlich auch ein wenig abgerissen, ein langes, dünnes Pfeifchen zwischen den Zähnen, kaum einen Gulden in der Tasche, aber aufrecht ausschreitend mit der Selbstgefälligkeit einer hochbegabten Künstlernatur. Ein Bohémien wie er im Buch steht.

 

Kaum ein Ort lässt sich denken, an dem der Mitte Februar 1875 gerade mal 20-jährige Dichter Arthur Rimbaud falscher am Platz hätte sein können als in den Straßen der biederen württembergischen Residenzstadt. „Bohémien ist ein schönes Wort“, sagt die Stuttgarter Literaturwissenschaftlerin Ute Harbusch. „Aber im Grunde waren das zur ihrer Zeit Gammler, die viel getrunken und in ziemlicher Armut gelebt haben.“

Harbusch, die für die Deutsche Schillergesellschaft Marbach bereits vor rund 25 Jahren in der literaturgeschichtlichen Reihe „Spuren“ ein schmales Heft über die Stuttgarter Wochen dieses Wegbereiters des literarischen Surrealismus geschrieben hat, spricht hier nicht allein von Rimbaud. Sein Freund, Förderer und Liebhaber, der zu dieser Zeit 30-jährige Lyriker und später kaum weniger berühmte Paul Verlaine, hatte den jungen Dichter in Stuttgart aufgesucht.

Unzählige Biografen, Romanciers, Musiker nehmen sich dieses Stoffs an

Zwar nur „zweieinhalb Tage“ lang, wie Arthur Rimbaud in einem Brief an den gemeinsamen Freund Ernest Delahaye noch aus Stuttgart schreibt. Doch lang genug, dass die Stuttgarter Episode dieser „amour fou“ die Fantasie vieler nachfolgender Literaten beflügelt. Unzählige Biografen, Romanciers, Theaterautoren, Musiker und Regisseure werden sich später genau dieses Stoffs annehmen.

Waren doch schon bei ihrem letzten Treffen im Juli 1873 in Brüssel Schüsse gefallen – nachdem der liebestrunkene Paul Verlaine, der für Arthur Rimbaud Frau und Kind hatte sitzen lassen, die Pistole auf seinen jungen Freund richtete. Dieser gab ihm in Belgien sang- und klanglos zu verstehen, sich von ihm trennen zu wollen.

Was würde also Stuttgart in dieser spannungsgeladenen Literatenliaison, die noch viele Jahrzehnte den Ruch eines Skandals in sich tragen wird, zu bieten haben? Es war der gemeinsame Freund Delahaye, der sehr viel später die Geschichte, die sich mutmaßlich Anfang März 1875 in der württembergischen Hauptstadt zugetragen hat, ergänzt, fortschreibt und ausschmückt.

Der Autor Paul Zech schreibt von der „Neckarschlacht“

„Er ist der Urheber des Mythos“, erklärt Harbusch. Einer Legende, die darin gipfelt, dass Rimbaud seinen aufdringlichen Liebhaber an den Gestaden des Neckars grün und blau geschlagen haben soll. Von einer Schlacht ist gar die Rede, die später durch den Schriftsteller Paul Zech plakativ zur „Neckarschlacht“ erhoben wird.

Was an der Geschichte tatsächlich verbürgt ist? Im Februar 1875 verlässt Rimbaud (1854-1891) Mutter, Bruder und Schwester in den heimatlichen Ardennen und reist mit dem Zug nach Stuttgart. Im Gepäck hat „dieses erstaunlichste Kind der französischen Literatur, das sein Werk mit fünfzehn Jahren begonnen und mit zwanzig Jahren abgeschlossen hatte“, so Harbusch, vermutlich die Blätter seiner letzten Prosagedicht-Sammlung „Illuminations“. Leuchtend-schwebende Texte, die fast immer undurchdringlich bleiben.

Nachdem er bereits in Großbritannien Englisch erlernt hat, will er ausgerechnet im schwäbischen Stuttgart sein Schuldeutsch verbessern. Zu welchem Zweck, bleibt unklar. Bereitet sich Rimbaud mit dem Erlernen fremder Sprachen schon auf seine Zukunft als Weltenbummler vor? Oder ist auf dem Hintergrund der nach wie vor schwelenden preußisch-französischen Konflikte der Aufenthalt in Württemberg gar Teil einer Vorbereitung auf den Militärdienst, wie es kürzlich die Literaturwissenschaftlerin Cornelia Ortlieb ins Spiel brachte?

Sicher ist im Rückblick: Mit dem poetischen Schreiben hat Rimbaud in Stuttgart bereits abgeschlossen. „Das Vorstoßen ins Unbekannte, war seine Art, in der Welt zu sein“, sagt Harbusch. „Die Literatur war darin für ihn nur eine von vielen Möglichkeiten, sich auszuprobieren.“ Das Unbekannte, das er in der Poesie nicht fand, sucht Rimbaud für den Rest seines Lebens in exotischen Gefilden. Als Kaufmann und Händler, unter anderem von Waffen, wird er es zu einigem Wohlstand bringen, bevor er mit 37 Jahren in Marseille an Krebs stirbt.

In Stuttgart findet er, wohl auf Vermittlung seiner Mutter, bei Pfarrer Wagner in der Hasenbergstraße 7, heute Hasenbergsteige 10, die erste von zwei Unterkünften in der Stadt. Wenig später wird an selber Stelle der Rotkreuzgründer Henry Dunant wohnen. Die Adresse sei lange unbekannt gewesen, weil die Akten des Stuttgarter Einwohnermeldeamts im Zweiten Weltkrieg verbrannten, erzählt Ute Harbusch. Anders als seine zweite Unterkunft in der Marienstraße 2 taucht die erste auch in keinem der Briefe oder anderen schriftlichen Hinterlassenschaften von Rimbaud, Verlaine oder Delahaye auf.

Rimbauds Anzeige in der „Schwäbischen Kronik“

Ute Harbusch war es, die mit dem Gespür einer Kriminalistin vor 25 Jahren die zündende Idee hatte. „Denn Rimbaud hatte schon in London Anzeigen in Zeitungen aufgegeben, mit denen er dafür warb, Französischunterricht zu geben“, berichtet sie. Nicht unwahrscheinlich also, dass sich eine solche Anzeige auch in einer Stuttgarter Zeitung finden würde: Im Rahmen der Arbeit am Spuren-Heft nahm sich die Literaturwissenschaftlerin deshalb vor, in der Württembergischen Landesbibliothek alle Ausgaben der „Schwäbischen Kronik“ zu durchforsten, die zwischen Mitte Februar und Mitte April 1875, dem Zeitraum von Rimbauds Aufenthalt in Stuttgart, erschienen sind.

In der „Schwäbischen Kronik“ vom 7. März wird sie fündig: Auf einer der hinteren Seiten liest man dort: „Ein Pariser, 20 J. alt, wäre geneigt, mit lernbegierigen Personen, die deutsche Sprache gegen die Französische zu studieren. Briefe an A. Rimbaud, Hasenbergstr. 7, Stuttgart.“

Der Anzeigentext untermauert auch die Theorie, dass der Dichter zum Deutschlernen nach Stuttgart gekommen war. Paul Verlaine, so schildert Harbusch, wird später in Erinnerungen über Arthur Rimbaud ganz unverfänglich schreiben: „Im Februar 1875 sieht man ihn in Stuttgart, sehr korrekt und in ‚philomathischem‘ Fieber, wie er sagte, Bibliotheken durchstöbern.“

Also keine Saufgelage, keine sexuellen Exzesse, kein Streit, schon gar keine „Neckarschlacht“? Der Brief Rimbauds an Delahaye aus Stuttgart spricht, wenn nicht wörtlich, so doch indirekt eine andere Sprache: Rimbauds illustrierende Kritzeleien am Blattrand wimmeln neben Szenen aus der Stadt und Flüchen über seinen Hauswirt Wagner vor Weinflaschen und fast brutal anmutenden Phallus-Darstellungen.

Im danebenstehenden Text beschreibt der Dichter, wie Paul Verlaine, damals just dem Brüsseler Gefängnis entlassen, ihn in Stuttgart aufgesucht habe. Hinter Gittern hat Verlaine zum katholischen Glauben gefunden. Nun will er offenbar seinen Liebhaber nicht nur zurückgewinnen, sondern auch zur Religion bekehren.

In Stuttgart findet er „alles ziemlich minderwertig“

Doch nicht mit dem jungen Freigeist, der bis dato ein „anarchisch-selbstbestimmtes Leben“ geführt hat, wie Harbusch betont. In einem Brief an Delahaye schreibt Rimbaud vieldeutig über das Ergebnis eines Disputs mit Verlaine: „Drei Stunden später hatte man Gott verleugnet und die 98 Wunden Unseres Herrn zum Bluten gebracht.“ Daneben auch, dass der Franzose in Stuttgart „alles ziemlich minderwertig“ findet – mit Ausnahme des „Riessling“.

Rimbaud kündigt in dem Brief an, bald bei dem offensichtlich ungeliebten Pfarrer Wagner auszuziehen. Was ihm dort missfiel, bleibt unscharf. Das damalige Haus in der Hasenbergsteige 10 existiert heute nicht mehr, ebenso nicht das Gebäude Marienstraße 2, wo Rimbaud den Rest seiner Stuttgarter Zeit, offenbar zufrieden, im dritten Stock logiert. Der genaue Gebäudestandort ist an dieser Stelle durch die massiven städtebaulichen Umgestaltungen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr bebaut. Ein Hinweis auf Rimbauds Anwesenheit vor 150 Jahren, eine Tafel oder ähnliches, findet sich weder in der Marienstraße noch am Hasenberg.

Der Stuttgarter Brief Rimbauds an Delahaye sei „reich an Anspielungen und arm an Details – doch ohne einen Hinweis auf eine ernsthafte Prügelei“, schreibt Harbusch im Spuren-Heft. Dass die „von Gewalt geprägte Beziehung“ anders als in Brüssel in Stuttgart ohne Blessuren zu Ende ging (beide sahen sich danach nie wieder), ist zwar nicht unwahrscheinlich. Doch möglich ist eben auch, dass Delahaye durch mündliche Erzählungen Verlaines, so Harbusch, später mehr erfahren habe, als die Briefe hergeben.

Ob Delahaye nur aus dichterischer Freiheit oder aus mehr geschöpft hat, bleibt für immer ein Geheimnis. Der Nachwelt jedenfalls hinterlässt er, sprachlich nicht ganz fehlerfrei, der Streit zwischen Rimbaud und Verlaine endete „weit außerhalb Stuttgarts in einer Schlacht nicht mehr in Worten, sondern aus Faustschlägen, nachts im Schein des Mondes am Ufer der Necker, deren Fluten sich in nur zwei Schritt Entfernung dahinwälzen und dem phantastischen Roman dieser beiden Besessenen einen allzu natürlichen Epilog zu bieten scheinen.“