Er ist Bassist, Posaunist, Stuckateur, Lehrer, Restaurator und vor allem Bildhauer: Ein Atelierbesuch bei dem 82-jährigen Multitalent Gerhard Tagwerker.

Leinfelden-Echterdingen - Zusammen mit Luis Trenker hat er den Papst getroffen. Und eine Maß Bier mit ihnen getrunken. So beginnen Geschichten, die man eher in Legendenbüchern sucht als im wahren Leben. „Das war eine tolle Sache“, sagt Gerhard Tagwerker. Zur Audienz eingeladen worden sei er damals wohl, weil er viel für die Diözese Rottenburg-Stuttgart geschaffen habe. 1980 war es, im Herkulessaal der Münchener Residenz, wo die Gäste in Dreiergruppen zu Johannes Paul II. gerufen wurden. Die alphabetische Reihenfolge wollte es, dass der Bildhauer Tagwerker zusammen mit der Bergsteigerlegende Trenker und der Schauspielerin Luise Ullrich vor Karol Wojtyla trat. „Er hat mich sehr beeindruckt.“ Gerhard Tagwerker erzählt davon erst gegen Ende des Treffens und nebenbei, fast versteckt zwischen dem Rathausbrunnen in Echterdingen, den er einst entworfen hat, und dem Offizierskasino der amerikanischen Besatzertruppen, in dem er abends mit wechselnden Big Bands am Schlagzeug saß und Jazzmusik spielte. Lange her, aber noch lange nicht verblasst.

 

Der Ort lädt zum Verweilen ein an diesem sonnigen Frühjahrsvormittag. Ein Zaubergärtchen, in dem zwischen gelben und blauen Farbtupfern eine bronzene Madonna meditiert. Dahinter ein schnuckeliges Bauernhaus mit altem Fachwerk und neuem Innenleben. Unter dem Dach die Wohnung, einst Heuboden, und in der ehemaligen Scheune ein Atelier, in dem statt landwirtschaftlicher Gerätschaften die schönen Künste von jedem Fleckchen Besitz ergriffen haben. Mit viel Mühe hat sich noch Platz gefunden für ein Tablett mit Butterbrezeln und einer Kanne Kaffee. Frisch gebrüht und unvergleichlich gut, wie Gerhard Tagwerker sagt. „Meine Frau hat mir nie verraten, wie sie den macht.“

Kunstvolles Handwerk hat offenbar Tradition im Hause Tagwerker, das im alten Ortskern von Echterdingen steht, eine Art Privatmuseum, durch das häufig Besuchergruppen geführt werden. Der 82-jährige Hausherr steht noch mitten im Leben. Was er alles erlebt und getan hat, füllt nicht nur Bücher, sondern auch Kirchen und Schlösser überall in der Republik, steht in Parks und auf Friedhöfen, auf Einladungen, Urkunden und Dankesschreiben. Zum Beispiel auf diesem: „Sehr geehrter Herr Tagwerker, Sie haben für die Bundesgartenschau 1977 und damit auch für die Stadt Stuttgart durch Ihren Einsatz und Ihre Tätigkeit einen bedeutenden Beitrag geleistet. Ich spreche Ihnen dafür meinen Dank aus.“ Unterzeichnet ist diese „bleibende Erinnerung an das Grüne Erlebnis“ vom damaligen Oberbürgermeister Manfred Rommel, der den vielseitigen Steinbildhauer, Barock-Stukkateur und freischaffenden Künstler zuvor als Mitglied im seinerzeit gebildeten Beirat zum verantwortlichen Grabstättengestalter berufen hatte.

Eine Biografie mit Ecken, Kanten, Kurven, Bögen

„Ich wollte etwas ganz Neues schaffen, darin habe ich meine Aufgabe gesehen“, sagt Gerhard Tagwerker, der also für die damalige Bundesgartenschau in der Landeshauptstadt neben diversen Brunnen und Skulpturen, die heute unter Denkmalschutz stehen, auch eine große Musterausstellung moderner Grabmale entwarf und damit nebenbei eine neue Friedhofsordnung ins Leben rief. Alleine die Grabsteine, die er für die letzte Ruhestätte lokaler Prominenz in Stein gehauen hat, füllen etliche Ordner, in denen Tagwerker Abbildungen seiner Werke sammelt. „Ich habe mich immer schon gerne mit theologischen Themen auseinandergesetzt, mich sehr für biblische Geschichten interessiert“, sagt der Künstler, der sein Leben am liebsten so erzählt, wie es verlaufen ist, meist kreuz und quer, selten geradlinig, eine Biografie mit Ecken, Kanten, Kurven, Bögen.

1932 im österreichischen Klagenfurt geboren, wächst Gerhard Tagwerker mit der Familie im Haus der Großeltern im nordböhmischen Teplitz-Schönau auf, wo sich sein Talent zum Modellieren schon früh zeigt. Und seine Begabung zum Improvisieren. Um sich der deutschen Mutter anschließen zu können, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den Besatzungstruppen vertrieben worden ist, lässt der damals 13-Jährige kurzerhand seine rot-weiß-rote Armbinde verschwinden und beschafft sich ein falsches deutsches Ausweisdokument – was ihn während des Transports fast das Leben kostet. Er sei dem tschechischen Exekutionskommando nur entkommen, erzählt er, weil ihm zufällig sein richtiger österreichischer Pass aus der Tasche gerutscht sei, als er nach einem Sturz mit zertrümmertem Fersenbein auf dem Boden gelegen habe. Anstatt ihn zu erschießen, wie jene deutschen Flüchtlinge, die unfähig waren weiterzugehen, lassen die Soldaten den jungen Österreicher einfach neben den Toten liegen. „Ein furchtbares Erlebnis.“

Hat er Trost und Frieden gesucht in den biblischen Geschichten nach all dem Schrecken der apokalyptischen Bilder? Wollte er Bleibendes erschaffen nach all der Zerstörung? Zunächst will er vor allem wieder auf die Beine kommen, die Odyssee überstehen, die fürs Erste in Thüringen endet, in Johann Sebastian Bachs Geburtsstadt Eisenach, wo er das Gymnasium zu Ende bringt. In Bamberg lässt er sich zum Bildhauer und Stukkateur ausbilden, zum Restaurator, der im dortigen Dom, in Schlössern und Wallfahrtskirchen seinen kunstvollen Teil zum Wiederaufbau beiträgt. Am Bodensee repariert er später für ein tägliches Mittagessen die Schlosskirche von Friedrichshafen. Nebenbei macht er auf dem Ausflugsdampfer Schwaben ein halbes Jahr Tanzmusik für die Gesellschaften. Gelernt hat Gerhard Tagwerker diese Kunst auf einem Jazz-Konservatorium in Würzburg, wo er als junger Kerl in Abendseminaren Bass, Posaune und Schlagzeug studierte und bei dieser Gelegenheit Musikern wie Louis Armstrong, Benny Goodman, David Oistrach und Yehudi Menuhin begegnete, die damals vor der Truppe spielten. „Die sind ganz schön berühmt geworden“, sagt Gerhard Tagwerker.

Deutliche Spuren in Stuttgart

Ganz schön berühmt. Mehr als hundert Kirchen hat der Bildhauer ausgestaltet, überall in Baden-Württemberg, in Rheinland-Pfalz, in Hessen und Bayern. Für die meisten hat er ein Gesamtkonzept entworfen – von der farblichen Wandgestaltung bis zu den Altären, Kreuzen, Tabernakeln, Taufsteinen, Figuren und Portalen.

Dazu hat er als Künstler eine Vielzahl von Skulpturen, Plastiken und Brunnen geschaffen, die an vielen Orten das Stadtbild prägen. So ist etwa die lebensgroße Ackermann-Gruppe in Zuffenhausen ein Werk von Tagwerker. Oder die bronzene Bischof-Moser-Gruppe im Stuttgarter Bohnenviertel. Das Relief „Christus trägt uns als sein Kreuz“ am Rottenburger Bischofshaus. Die Großplastik von Edith Stein, jener deutschen Philosophin, Nonne und heiliggesprochenen Märtyrerin der Kirche, die seit 2003 in der Klosteranlage St. Peter in Freiburg steht. „Ich habe mich lange mit Edith Stein und ihrer Geschichte beschäftigt und sie wohl ganz gut getroffen“, sagt Gerhard Tagwerker. Seine Werke sind in den vergangenen Jahrzehnten in einer Vielzahl von Ausstellungen gezeigt worden, zum Beispiel auf dem Stuttgarter Schlossplatz, im Augsburger Dom, in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, im Bonner Bundeshaus, in Düsseldorf, Österreich, Frankreich, Holland.

Die deutlichsten Spuren hat Gerhard Tagwerker wohl in der Landeshauptstadt hinterlassen, wohin er Anfang der 50er Jahre durch eine Zeitungsanzeige kommt, um als Experte für Gotik beim Aufbau der zerstörten Stiftskirche zu helfen. Bei dieser Gelegenheit freundet er sich mit dem Maler und Bildhauer Otto Herbert Hajek an, der in Stuttgart etliche Skulpturen aus Stahl und Beton in die Landschaft gesetzt hat. Hajek, der damals unter anderem an der Kunstakademie in Karlsruhe eine Bildhauerklasse leitet, habe ihn dazu ermuntert, selber Kunst zu studieren, erzählt Gerhard Tagwerker, der diesem Rat prompt folgt und sich zunächst für ein Grafikstudium an der Freien Akademie Merz einschreibt. Anschließend geht er an die Staatliche Akademie der Bildenden Künste, wo er schließlich Meisterschüler und Assistent bei den Professoren Heim und Hoflehner wird, auch zwei Berühmtheiten.

Ein zauberhafter Ort

Tagwerker finanziert das Studium mit seiner zweiten Profession, der Jazzmusik, mit Engagements in Clubs und Kneipen, in denen er mit wechselnder Besetzung aufspielt. Dass sich die beiden Künste durchaus sinnvoll ergänzen können, zeigt sich ihm zudem in Gestalt eines Auftrags, der ihn Anfang der 70er Jahre ereilt. Mangels geeigneter Kunstpädagogen soll er am Eduard-Spranger-Gymnasium in Filderstadt, das seine Kinder besuchen, ein Vierteljahr lang aushelfen und bildende Kunst unterrichten. Beachtliche 26 Jahre Kunstunterricht sind daraus geworden, dazu hat er in dieser Zeit eine Jazz-AG geleitet und etliche Schulbands gegründet, mit denen er teilweise noch heute an seinem Schlagzeug swingt. „Gehörigen Spaß macht es immer noch“, sagt er, „nur die Soloeinlagen dauern nicht mehr ganz so lange wie früher.“

Es gäbe noch so viel zu erzählen an diesem zauberhaften Ort. Draußen im Garten steht zwischen leuchtenden Farbtupfern die bronzene Madonna, im Original gegossen für die Wallfahrtskirche Weggental in Rottenburg und eines der liebsten Werke Katharinas, mit der Gerhard Tagwerker seit fast sechs Jahrzehnten verheiratet ist. Drinnen im Atelier findet sich inmitten der schönen Künste eine einsame Brezel neben einer leeren Kanne Kaffee, der frisch gebrüht war und unvergleichlich gut.