Unbarmherzig und schonungslos sind die Texte: Mit ihrem neuen Album will die Hamburger Band um Schorsch Kamerun Stachel im Fleisch sein und liefert 13 Kommentare zur Lage im Land.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Hamburg - Der Hamburger Künstler Thomas Sehl, der auf den schönen Künstlernamen Schorsch Kamerun hört, tritt in der bildungsbürgerlich geprägten deutschen Kulturöffentlichkeit seit vielen Jahren auch als Kunstakademiegastprofessor, Opernlibrettist und vor allem Theaterregisseur an den führenden deutschsprachigen Bühnen von Zürich über die Münchner Kammerspiele bis zu den Wiener Festwochen in Erscheinung. Hauptberuflich ist er jedoch seit nunmehr 35 Jahren als Gründungsmitglied in der Band Die Goldenen Zitronen tätig, deren seit Jahrzehnten gepflegte Attitüde wiederum der Keim auch seines Bühnenschaffens ist: kritischer, aufgeklärter und bisweilen auch wehtuender gesellschaftspolitischer Diskurs.

 

Seit Jahr und Tag üben die Goldenen Zitronen nämlich nicht nur Kritik am deutschen Spießbürgerdasein, nachzuhören etwa im nach wie vor köstlichen Stück „Auf dem Fundament meiner Initialen“ von ihrem 1996er-Album „Economy Class“, in dem ein reaktionärer Vater seinem in seinen Augen missratenen Sprössling Zeilen wie „Weil ich Verantwortungsbewusstsein nicht nur groß, sondern vor allem auch richtig schreibe“ entgegenschleudert. Ebenso leidenschaftlich arbeiten sie sich auch an der Janusköpfigkeit der deutschen Linken ab, an Salonsozialisten ebenso wie an falsch verstandenem Gutmenschentum. Damit stehen die Goldenen Zitronen übrigens in bester Tradition ihrer Herkunft aus dem echten Punkrock und der Hamburger Schule, man schlage etwa bei der ebenfalls hanseatischen Band Slime und ihren Stücken wie „Linke Spießer“ nach. Die Feindbilder der Bewegung hießen und heißen mitnichten Franz Josef Strauß und Horst Seehofer, sondern entstammen dem selbstgerechten und -gefälligen politischen Establishment gleich welcher Couleur.

Veteranen der Hamburger Schule

„Gebt doch endlich zu, euch fällt sonst nichts mehr ein / zu euren fucking Privilegien, eurem Unwohlsein / Ihr edlen Erfinder der Menschenrechte / braucht doch in Wahrheit outgesourcte Knechte“ heißt es etwa in einem der elf Stücke des insgesamt nun schon dreizehnten und an diesem Freitag erscheinenden neuen Goldene-Zitronen-Albums „More than a Feeling“. Schon die Doppelbödigkeit des Albumtitels, hier die arglos-schlichte Altbackenheit des zitierten Popklassikers der Band Boston, dort die Gewissheit, dass die verhandelten Gegenstände mehr als nur einer diffusen Gefühligkeit bedürfen, gibt die Richtung vor. Dieses Album will ein Stachel im Fleisch sein, es versteht sich als expliziter Beitrag zur Debatte, fast schon als Manifest zum Zustand einer Republik, in dessen Texten „besorgte Bürger“ und „an den Rand gedrängt fühlende Trauerklöße“ ebenso wie „Richtigmachenwoller“ und Menschen „aus dem süßen Kiez-Lädchen für Handmade-Outdoorkleidung“ ihr Leben leben, privat und eben (leider) bisweilen auch öffentlich.

Unbarmherzig und schonungslos sind die Texte, die im Gegensatz zur Musik allesamt aus den Federn von Schorsch Kamerun und dem zweiten verbliebenen Bandgründer Ted Gaier stammen. Nichtsdestotrotz sind sie ein grandioses, auch lyrisch sehr anspruchsvolles Statement zur Lage im Lande und der – frei nach Goethe – in ihm wirkenden Kräfte, die das vermeintlich Gute wollen und oft doch das Böse schaffen. Inhaltlich ist „More than a Feeling“ ein maßstabsetzend großer Wurf, den von den Befindlichkeitsbarden über die Stadionrocker bis hin zu den teutonischen Gangsterrappern gerne mal alle anderen heimischen Popkünstler als Messlatte nehmen dürfen.

Musikalisch bleiben sich die Goldenen Zitronen treu. Neben Kamerun und Gaier spielen in der Band-Stammbesetzung unter anderem Thomas Wenzel alias Julius Block (Die Sterne) und Mense Reents (Egoexpress, Stella), als Gastvokalistin taucht die feine Sophia Kennedy auf. Geboten wird, nicht überbordend, aber ambitioniert und sehr süffig instrumentiert, der gewohnt elektronische Synthesizerteppich, der mit originellen Einsprengseln – Metallofon, elektrische Tablas, Calimba – gewürzt wird und über den sich der Gesang legt, zumeist als deklamatorischer Sprechgesang.

Ein großes Finale

Nach Stücken mit Titeln wie „Das war unsere BRD“ oder „Mauern bauen (teilweise)“ kulminiert das Album im abschließenden Song „Die alte Kaufmannsstadt, Juli 2017“. Thema ist, erraten, Hamburg und der G-20-Gipfel, der fast schon kurzgeschichtenlange Text zu diesem Siebenminüter bewahrt sich bei aller resignierten Dystopie eine ironische Ader. „Was fehlt in der Erzählung ist das schwer Benennbare jenseits der Logik der Schützengräben“ heißt es darin. Punktgenau verdichtet bringen die Goldenen Zitronen das Dilemma der vordergründig in einem Wertekonsens lebenden deutschen Gesellschaft, unter deren Firnis es mehr brodelt als manche dies wahrhaben wollen, auf einen Nenner.