2011 war innenpolitisch ein Jahr der Überraschungen: eine neue Partei, ein abschreibender Minister und ein Staatsoberhaupt verliert Kredit.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart - Das Jahr 2011 war innenpolitisch ein Jahr der Überraschungen: eine neue Partei macht von sich reden, ein Minister entpuppt sich als Abschreiber, ein Staatsoberhaupt verliert Kredit - und ein schreckliches Phänomen wird offenbar: der Rechtsterrorismus.

 

28. Januar 2011: Herr der Akten

Die DDR-Oberen schickten ihn zur Bewährung in die Produktion, nun leitet der ehemalige Bürgerrechtler Roland Jahn die Stasiakten-Behörde. Ein ehemaliges Opfer des Regimes verwaltet das papierne Erbe des deutschdemokratischen Geheimdienstes - auch zwanzig Jahre nach Ende der DDR ein gutes Stück politischer Symbolik. Rigoroser als seine Vorgänger versucht Jahn die letzten MfS-Mitarbeiter loszuwerden. In die Produktion sollen sie nicht versetzt werden, nur in andere Behörden oder Ministerien.

20. Februar 2011: Absolute Mehrheit

Er legte vor in diesem Wahljahr – und wie. Mit einer absoluten Mehrheit wurde der Sozialdemokrat Olaf Scholz zum Hamburger Bürgermeister gewählt. Die anderen Länderchefs, die in diesem Jahr bestätigt oder neu gewählt wurden, müssen sich in bunten Koalitionen behaupten: Von Schwarz-Grün-Gelb (Saarland) über Grün-Rot (Baden-Württemberg), Rot-Grün (Rheinland-Pfalz/Bremen), Schwarz-Rot (Sachsen-Anhalt) bis Rot-Schwarz (Berlin, Mecklenburg-Vorpommern) reicht die Farbpalette der neuen Kabinette.

1. März 2011: Abgeschrieben

Wohl selten zuvor hat ein Politiker mehr für den Fortschritt der Wissenschaft getan als Karl-Theodor zu Guttenberg. Ohne seine in jahrelanger, mühevoller Nachtarbeit erstellte Kopierarbeit, die sich als Doktorarbeit tarnte, wäre es nie zu einer solch fruchtvollen Debatte über die Sauberkeit wissenschaftlichen Arbeitens in Deutschland gekommen. Es spricht für die Lauterkeit zu Guttenbergs, dass er bis heute nicht öffentlich zugeben mag, dass sein Plagiatorentum Absicht war.

13. Mai 2011: Es werde Licht!

„Wer die Laterne trägt, stolpert leichter, als wer ihr folgt“, sagte einst Jean Paul – und die Liberalen wissen am Ende dieses Jahres, wie recht so ein Dichter haben kann. Guido Westerwelle musste als Fackelträger der FDP abtreten, Philipp Rösler versucht seitdem der Partei den Weg zu leuchten. Viel Erhellendes hat er nicht beigetragen, kam aber dabei so oft ins Stolpern, dass ein baldiger Sturz nicht ausgeschlossen werden kann.

18. Mai 2011: Umbau in Oliv

Er hinterlasse ein „weitgehend bestelltes Haus“, erklärte Karl-Theodor zu Guttenberg zum Abgang. Sein Nachfolger als Verteidigungsminister, Thomas de Maizière, empfand das Erbe eher als Bruchbude – und arbeitete sein eigenes Konzept zur Bundeswehrreform aus. Was er dann im Mai verkündete, war der größte Umbau der Armee seit ihrer Gründung. Minister Maizière erntete für seine Pläne viel Lob und erstaunlich schwachen Protest. Er zeigte sich als geschickter Politikmanager mit Potenzial für noch höhere Aufgaben.

30. Juni 2011: Mutterglück

Sie hat Geschichte geschrieben. Sie ist die erste Bundesministerin, die während ihrer Amtszeit Nachwuchs bekommen hat. Lotte Marie heißt die gemeinsame Tochter der Bundesfamilienministerin Kristina Schröder und ihres Mannes Ole Schröder. Nach der Mutterschaftszeit von 14 Wochen kehrte die Ministerin an ihren Schreibtisch zurück. Aber auch die SPD konnte eine Premiere vermelden: Generalsekretärin Andrea Nahles brachte im Januar Tochter Ella Maria zur Welt. Der gesellschaftliche Wandel hat CDU wie SPD bis in die Spitzen erfasst.

30. Juni 2011:Schnellabschalter

Im März zerstörte ein Erdbeben mit anschließendem Tsunami einen großen Küstenstreifen Japans. In der Folge gerieten Teile des Atomkraftwerkkomplexes Fukushima außer Kontrolle, der GAU war da, weite Landstriche sind verstrahlt. Die Naturkatastrophe mit Beben und Flut kostete 16.000 Menschen das Leben, 4000 weitere werden vermisst. Durch den GAU starb bisher kein einziger Mensch. Während Japan an der Atomkraft festhält, steigt Deutschland im Eiltempo aus. Kleiner Nebeneffekt: Umweltminister Norbert Röttgen (CDU), vorher als Gegner der von Schwarz-Gelb beschlossenen Laufzeitverlängerung auf der Verliererseite, darf nun die deutsche Energiewende organisieren.

Die zweite Jahreshälfte 2011

10. August 2011: Seitenwechsler

Eigentlich soll Gewaltenteilung herrschen im Staate, sollen sich Legislative, Exekutive und Judikative gegenseitig unter Kontrolle halten. Der Saarländer Peter Müller (CDU) kennt da keine Grenzen, er fühlt sich in allem zu Hause. Sein Abgeordnetenmandat und den Job des Ministerpräsidenten gab er ab, um nahtlos in das Amt des Bundesverfassungsrichters zu wechseln. Nun kann er die Gesetze überprüfen, an denen er selbst mitgewirkt hat. Ob sich der alte Montesquieu das so vorgestellt hat?

18. September 2011: Gut gekapert

„Klarmachen zum Ändern“ war das Wahlkampfmotto der Piraten in Berlin. Und geändert haben sie eine Menge. Ihr Einzug ins Abgeordnetenhaus hat sie nicht nur zu einer beachtenswerten Größe in der bundesdeutschen Parteienlandschaft gemacht. Mit ihren 15 Neuparlamentariern haben sie auch die rechnerische Mehrheit für Rot-Grün in der Bundeshauptstadt so sehr verknappt, dass sich der Regierende Bürgermeister für ein Bündnis mit der CDU entschied. Die Wähler hatten zwar mehrheitlich eine andere Präferenz, aber Klaus Wowereit (SPD) hat mal lieber Rot-Schwarz klargemacht.

24. Oktober 2011: Spieleröffnung

Sie sind die Schachspieler des Jahres 2011. Es war schon ein begnadeter Zug, wie der Helmut Schmidt (Altkanzler) den Peer Steinbrück (Ich-möchte-so-gerne-Kanzler-sein) mit dem Satz „Er kann es“ ins Rennen um die Kanzlerkandidatur der deutschen Sozialdemokratie schickte. Eine überraschende Spieleröffnung, die Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier zunächst perplex aufs Brett starren ließ. Aber entschieden ist nichts. Vielleicht ist Peer Steinbrück am Ende doch nur ein Bauer, der sich zu weit auf die Seite eines Königs vorwagt – und vom Spielfeld fliegt.

4. November 2011: Mörderbande

In Thüringen kommt die Polizei einer rechtsextremistischen Gruppe auf die Spur. Das Zwickauer Trio soll zwischen 2000 und 2007 acht Einwanderer aus der Türkei, einen griechisch-stämmigen Mann und eine deutsche Polizistin ermordet haben. Bis dieser „Nationalsozialistische Untergrund“ („NSU“) – eher zufällig – aufgedeckt wurde, hatten die deutschen Sicherheitsdienste nach eigener Auskunft ausgeschlossen, dass es Rechtsterrorismus in Deutschland gibt. Rechte Gewalt aber war schon vorher für viele Menschen tödlich: Rund 140 Menschen starben laut inoffiziellen Zählungen seit 1990 durch die Hand von Rechtsradikalen.

9. Dezember 2011: It's Angela!

Wie sich das Bild ändern kann: Im Mai feierte das US-Magazin „Newsweek“ die deutsche Kanzlerin noch als große Krisenmeisterin, die ihr Land mit Geschick durch „die schlimmste Finanzkrise seit der Großen Depression“ steuert. Nach dem großen Euro-Rettungsgipfel im Dezember titelte dasselbe Blatt mit doppeltem Ausrufezeichen: „Achtung! It’s Angela!“ – und geißelte, dass sich die Kanzlerin die Europäische Union eiskalt nach deutschen Wirtschaftsinteressen zurechtschneidere. Ganz ohne Eigeninteresse verfolgen die USA die Eurokrise nicht: einige amerikanische Finanzjongleure verdienen ganz ordentlich an der Schwäche der europäischen Währung.

13. Dezember 2011: Frage der Moral

„Wer zur Elite eines Landes gehören will, muss auch Vorbildfunktion und Verantwortung übernehmen – ohne Wenn und Aber“, sagte Christian Wulff, der Bundespräsident, im März 2011. Seit sein privater Kredit, den ein befreundetes Unternehmerpaar bezahlte, seine Urlaubsreisen in die Ferienhäuser reicher Freunde und sein enger Draht zum Milliardär Carsten Machmeyer bekannt sind, wird Wulff von seiner Vergangenheit eingeholt.