Im politischen Berlin herrscht Fassungslosigkeit über die Selbstzerfleischung der Union. Und die Gewissheit wächst: mit Seehofer wird das alles nicht mehr gehen.

Berlin - Das Regieren, so scheint es an diesem sommerlichen Montag, hat aufgehört. In der Bundespressekonferenz wird diskutiert, dass am Dienstag die Vorstellung des neuen Verfassungsschutzberichts entfällt. Wichtiges Thema eigentlich in Zeiten zunehmender Bedrohungen, doch die Bundesregierung, allen voran ihr zumindest vorübergehend vom Rücktritt zurückgetretener Innenminister, ist mit sich selbst beschäftigt. Einmal abgesehen davon, dass der sozialdemokratische Außenminister Heiko Maas an diesem Berliner Chaostag unverdrossen die Kollegen aus Athen und Sofia empfängt.

 

Ein niederländischer Journalistenkollege versteht nur noch Bahnhof und will von der Sprecherin des Innenministeriums von CSU-Chef Horst Seehofer wissen: „Was ist eigentlich bei Ihnen los?“ Eine echte Antwort gibt es nicht. Auch Regierungssprecher Steffen Seibert entschuldigt sich, dass er zu „Gesprächen zwischen Parteien keine Auskunft geben kann“. Die Frage bleibt: Was ist los in dieser Koalition?

Die Grünen sehen „irre Tage“

Die Opposition gibt sich fassungslos – von der AfD abgesehen, die das Spektakel genüsslich verfolgt. Der Oberliberale Christian Lindner fordert einen Migrationsgipfel für Deutschland und Linksparteichef Bernd Riexinger von den Grünen „klare Töne, dass sie diesen Rechtsruck nicht mitmachen“. Die wiederum üben sich in einer Gratwanderung zwischen Kritik und Verantwortungsbewusstsein, weil sie ja möglicherweise für die CSU einspringen könnten. „Irre Tage und noch irrere letzte Stunden“ stellt Grünen-Chefin Annalena Baerbock bei der Union fest. Ein „kaum wiedergutzumachender Schaden“ sei entstanden, die Bürger wendeten sich mit Schaudern ab. „Wir stehen nicht für so eine kaputte Regierung als Reserverad zur Verfügung“, so Baerbock.

Den Sozialdemokraten reicht es jetzt endgültig. Im Willy-Brandt-Haus raufen sie sich seit Tagen die Haare ob der Zustände bei CDU und CSU. Die Genossen fürchten, bei einem Zerbersten der Regierung mit in den Abgrund gerissen zu werden. Klar, ein wenig Schadenfreude schwingt auch mit, wenn die Granden der SPD mit Journalisten die Köpfe zusammenstecken. Aber es überwiegt aufrichtige Sorge, was werden soll aus diesem Land, wenn es Union und Koalition zerlegt. Unendlich viel Mühe, die Geschlossenheit der Partei und Millionen Euro hat es die SPD gekostet, sich abermals in das Bündnis zu schleppen. Das soll für die Katz gewesen sein?

Lange hat sich die SPD daher aus dem Konflikt herausgehalten – auch weil Parteichefin Andrea Nahles selbst erst begonnen hat, in der Flüchtlingsfrage die Enden in ihrer Partei zusammenzuführen. Schließlich gibt es in der SPD Fans der Willkommenskultur, genauso aber Abschottungsbefürworter der Marke Seehofer. Spätestens nach diesem Chaossonntag kann sich Nahles ihre Zurückhaltung aber nicht mehr erlauben, ohne als zahnlos zu gelten.

Nach einer Sitzung von Vorstand und Präsidium legt sie los. Man könne, so Nahles, „nur den Kopf schütteln über das Chaos“ bei der Union, ein „rücksichtloses Drama“ komme da zur Aufführung: „Mit Regierungsfähigkeit und Regierungswilligkeit hat das nichts zu tun.“ Die CSU lähme mit ihrem „gefährlichen Egotrip“ Deutschland und Europa, die CDU werde mit „Ultimaten, Erpressungsversuchen und Rücktrittdrohungen in die Ecke gedrängt“. Nahles wagt sogar trotz der desolaten Umfragewerte der SPD die zarte Andeutung einer Drohung, notfalls auszusteigen. „So geht es nicht weiter“, sagte sie. Die Koalitionsspitzenrunde, die sie daher verlangt, wird später für 22 Uhr angesetzt.

Seehofer fehlt – steckt erim Stau?

Bis dahin will die Union ihren Namen wieder zu Recht tragen. „Wir bleiben beieinander“, hat Fraktionschef Volker Kauder zu Beginn der gemeinsamen Sitzung am Nachmittag als Tageslosung ausgegeben und dafür eine knappe Minute lang Beifall von Abgeordneten beider Parteien bekommen. Eine CSU-Frau meldet sich danach und äußert „nur eine Bitte“, dass sich nämlich das Spitzenpersonal endlich einigen möge. Der CDU-Innenexperte Armin Schuster ergänzt, dass die Fachleute in der Sache leicht zueinanderfinden könnten. Es sei doch „ein Hammer“, dass Merkel mit mehr grenznaher Schleierfahndung Flüchtlinge aufgreifen und sofort zurückschicken wolle. Der Bayer Hans Michelbach droht, dass die Fraktion „ohne Ansehen der Person“ entscheiden werde, wenn die Oberen nicht zueinanderfinden.

Die Partei hält Merkel und Seehofer nicht mehr für konsensfähig

Seehofer ist nicht dabei. Angeblich steckt er im Stau, vielleicht will er sich auch nur nicht den Abgeordneten stellen, denen großteils jedes Verständnis dafür fehlt, dass er die Arbeit und die Angebote der Kanzlerin im Asylstreit tags zuvor so schlechtgemacht hat. Viel Symbolik steckt in seiner Abwesenheit. Vorn im Fraktionssaal sitzt Merkel eingerahmt von Kauder und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Als der noch meint, dass sich „aus einer Sachfrage eine Personalfrage entwickelt hat“, er aber „alles daransetzen will, ein gemeinsames Ergebnis zu erreichen“, um die „Schicksalsgemeinschaft“ zu erhalten, beschleicht manchen das Gefühl, dass Unionsfraktion und Koalition überleben könnten – um den Preis, dass Seehofer gehen muss.

Eine 16er-Runde mit den Stellvertretern und Generalsekretären, die am späten Nachmittag im Konrad-Adenauer-Haus zusammenkommt, soll dafür den inhaltlichen Kompromiss finden. Die Erkenntnis nämlich ist gereift, dass die beiden Vorsitzenden Merkel und Seehofer mit ihrer gemeinsamen Verletzungsgeschichte das allein nicht mehr hinbekommen. Da passt es ins Bild, dass die beiden unter Aufsicht von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble kurz vor dem gemeinsamen Treffen erneut zusammenkommen. Zu dem Spitzengespräch mit Merkel bringt Seehofer auf eigenen Wunsch den CSU-Ehrenvorsitzenden Edmund Stoiber mit, auch nicht eben ein Freund der Kanzlerin. Ob ihn das noch retten kann, ist im Laufe dieses Montags immer fraglicher geworden.