Wie sieht das richtige Verhältnis von Freiheit und Regeln aus? Wie könnte eine andere Wirtschaftsordnung aussehen? Das Seminar für freiheitliche Ordnung in Bad Boll sucht nach Antworten.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Bad Boll - Eckhard Behrens, Sohn eines preußischen Pferdezüchters, will dazu beitragen, dass sich ein Desaster wie das Dritte Reich nicht wiederholt. Es sind die 50er Jahre, als junge Intellektuelle wie er nach Rezepten für eine bessere Welt suchen. Behrens studiert Jura in Frankfurt am Main, seine Fakultät ist ein Hort des Ordoliberalismus. Ihn fasziniert die Idee, dass der Staat den Rahmen dafür schafft, dass sowohl ein ökonomischer Wettbewerb als auch soziale Gerechtigkeit garantiert sind. Behrens macht sich auf die Suche nach Gleichgesinnten und findet sie beim frisch gegründeten Seminar für freiheitliche Ordnung. Ende der 1960er, in den Hochzeiten des Vereins, treffen sich bis zu 200 Persönlichkeiten – Mediziner, Unternehmer, Verfassungsrichter – regelmäßig zum Gedankenaustausch in einer Pension am Ammersee.

 

Ein gutes halbes Jahrhundert später ist das Vorstandsmitglied Behrens froh, dass sich 16 Frauen und Männer für die zweitägige Tagung „Marktwirtschaft ohne Kapitalismus“ angemeldet haben. Die Teilnehmer sitzen auf rot gepolsterten Stühlen in der ehemaligen katholischen Kirche von Bad Boll, die dem Verein seit 1985 als festes Zuhause dient. Den Neulingen, ein Musikerpaar aus Leinfelden und zwei Göppinger Waldorfschüler, erklärt Behrens zunächst die Grundlagen: Das Seminar für freiheitliche Ordnung orientiert sich an den Schriften des Anthroposophen Rudolf Steiner und des Ökonomen Silvio Gesell. Laut Steiner sollen sich Kultur, Recht und Wirtschaft in autonomen Systemen gegenseitig die Waage halten. Für Gesell war Geld ein Tauschmittel, das nicht gehortet werden darf. Weil die Forderungen der beiden Vordenker auch mehr als acht Jahrzehnte nach deren Tod unerfüllt sind, leben wir in einer entarteten Marktwirtschaft, in der Vermögende privilegiert sind und Besitzlose mitunter ausgebeutet werden.

Wie sieht richtiges Verhältnis von Freiheit und Regeln aus?

Wer solche Thesen vertritt, könnte eine rote Socke sein. Doch Behrens ist ein Mitglied der FDP, ein Feind der sozialistischen Planwirtschaft und ein Anhänger der klassischen Nationalökonomie. Diese Urvolkswirtschaftslehre geht davon aus, dass Kapital ausschließlich dazu verwendet wird, Waren zu produzieren. Wird es jedoch gespart oder mit ihm spekuliert, dient es nicht mehr der Allgemeinheit, sondern nur dem Einzelnen. Die Folgen sind Arbeitslosigkeit, Finanzkrisen und ein soziales Ungleichgewicht. „Hohe Einkommen beruhen heute selten auf unternehmerischer Genialität, sondern auf Erbschaften“, sagt Behrens. Eine Marktwirtschaft sei erst dann wirklich frei, wenn der Verdienst eines Menschen von dessen Arbeitsleistung und nicht von dessen Eigentum abhänge.

Ein Herr mit langer, grauer Gesichts- und Kopfbehaarung meldet sich. Reiner Cornelius ist Kunstmaler, Dichter und Schriftsteller, seine 88 Jahre Lebenserfahrung fasst er in zwei Sätzen zusammen: „Wir können Freiheit nicht gewähren in der Hoffnung, dass die Menschen damit vernünftig umgehen. Der Straßenverkehr würde auch nicht funktionieren, wenn sich nicht jeder an klare Regeln halten müsste.“

Aber wie sieht das richtige Verhältnis von Freiheit und Regeln aus? „Im Laufe dieser Tagung werden wir nach Antworten suchen“, sagt Behrens, „aber jetzt machen wir erst einmal eine Kaffeepause.“ Nebenan sind bereits Butterbrezeln und Bienenstich angerichtet. Wer will, kann für das Vesper ein paar Euro in eine Blechdose werfen. Dann geht’s weiter im Programm.

Woran glauben die Freunde des Seminars für freiheitliche Ordnung?

„Eine Geldreform überwindet den Kapitalismus“ heißt das Referat, welches Behrens’ Vorstandskollege Fritz Andres hält. Der 68-Jährige leitete früher eine Familienbrauerei in Kirn an der Nahe. Als Privatier beschäftigt er sich nunmehr mit ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. „Ware altert, deswegen muss sie so schnell wie möglich auf den Markt“, doziert Andres. „Geld altert nicht, deswegen kann man es horten.“ Aus dieser unbestreitbaren Tatsache resultiert aus Sicht des Referenten Folgendes: der Wirtschaftskreislauf ist gestört, die Nachfrage sinkt, und die Unternehmen verschleudern Milliarden, um mit glücksversprechender Werbung ihre Produkte trotzdem loszuwerden. Würde man jeden Geldschein hingegen mit einem Verfallsdatum versehen, etwa durch einen entsprechend programmierten Sicherheitsstreifen, wären die Menschen stets zum Konsumieren gezwungen und wäre die Konjunktur vor Schwankungen gefeit.

Aus der hintersten Reihe kommt ein Einwand. „Dann würden die Leute ja noch mehr kaufen als heute, und die Ressourcen würden noch schneller knapp“, sagt der Waldorfschüler Simon Marian Hoffmann. Keineswegs sei das so, entgegnet Andres. Vielmehr würden die Menschen in seiner neuen Wirtschaftswelt nur so viel arbeiten, bis ihr Bedarf gedeckt sei.

Als lebender Beweis für diese These meldet sich Helmut Rau zu Wort. Er habe mit seinen 51 Jahren eine geräumige Eigentumswohnung abbezahlt, ein zuverlässiges Auto in der Garage stehen, und seine Altersversorgung sei auch gesichert. Deshalb verbringe er nur noch 24 Wochenstunden als Einkäufer bei einem Maschinenbauer. In der restlichen Zeit mache er sich lieber Gedanken darüber, wie das Wirtschaftssystem menschlicher gestaltet werden könne.

Rosarote Aussichten für die Zukunft

13 Uhr: im Gasthaus Löwen bietet sich die Gelegenheit, die schwere Kost des Vormittags zu verdauen und den Magen zu füllen. Eckhard Behrens bestellt sich einen Fitnessteller. Bis zu seiner Pensionierung war der Jurist hauptberuflich in leitenden Verwaltungspositionen tätig: zunächst beim Bundeskartellamt, dann beim Bund der Freien Waldorfschulen und schließlich an der Universität Heidelberg. Seit 1987 gehört er dem dreiköpfigen Vorstand des Seminars für freiheitliche Ordnung an. Das Spendenaufkommen sinkt stetig, der Verein lebt längst von seinen Rücklagen, die noch etwa zehn Jahre reichen dürften. Die mehr als 250 Bände der im 57. Jahrgang erscheinenden Zeitschrift „Fragen der Freiheit“ werden momentan für das Internet aufbereitet, damit die vom Seminar entwickelten Ideen zumindest digital der Nachwelt erhalten bleiben. Behrens ist nun 77, seine Vorstandskollegen kommen auch allmählich in die Jahre, womöglich werden sich keine geeigneten Nachfolger finden. „Das Stirb und Werde gilt eben auch für Institutionen“, sagt Eckhard Behrens.

Am Nachmittag tritt ein junger Hoffnungsträger aus Meersburg vor das Bad Boller Publikum. Timm Cebullas schlaksiger Körper steckt in einem geringelten Kapuzenpulli und verwaschenen Jeans, der Titel seines Referats lautet: „Wie arbeiten wir in einer nachkapitalistischen Gesellschaft?“ Der 28-Jährige hat seine Power-Point-Präsentation tags zuvor in einem Internetcafé überarbeitet, wobei die Spiegelstriche vor Unterpunkten wie „Niemand hat mehr Privilegien“, „Niemand ist mehr von Arbeitslosigkeit bedroht“ oder „Niemand muss noch Existenzängste haben“ verschwunden sind. Cebulla redet langsam und macht viele Pausen. Nach anderthalb Stunden schließt er seinen Vortrag mit der rosaroten Aussicht, dass die Menschen nicht mehr aggressiv, zornig oder faul seien, wenn all das umgesetzt sei, was das Seminar für freiheitliche Ordnung seit 1957 unermüdlich fordere.

Als Volkswirt hätte Timm Cebulla nach dem Studium einen gut bezahlten Job bei einer Großbank annehmen können. Dann könnte er wie sein Mentor Behrens im Gasthaus Löwen übernachten. Stattdessen hat er sich auf der Empore der ehemaligen Kirche ein Matratzenlager eingerichtet. Dort sitzt er nach vollbrachtem Referat und erzählt von einer Lebenskrise, die ihn vor drei Jahren verändert habe. „Damals stellte ich mir die einfache Frage: Was will ich?“ Ein paar Antworten hat Timm Cebulla bereits gefunden. „Ich will meine Meinung nicht verkaufen, und ich will keine Aufgaben erfüllen, die mich nicht interessieren.“ Auf seiner Website stellt er sich nun als „Achtsamkeitstrainer“ und „Unternehmenskulturberater“ vor sowie als „Denker für eine gesunde Wirtschaftsordnung“.

Woran glauben die Freunde des Seminars für freiheitliche Ordnung? Sie werden von dem Ideal geleitet, dass die von Natur aus nicht vermehrbaren Güter – der Boden, seine Schätze und die Atmosphäre – der ganzen Menschheit gehören. Wer diese Ressourcen nutzt, etwa ein Ölkonzern, sollte dafür kräftig zur Kasse gebeten werden. Diese Einnahmen würden pro Kopf an die Bevölkerung verteilt: Jeder Mensch auf der Welt bekäme zum Geburtstag einen Scheck von der Staatengemeinschaft. Womit endlich gewährleistet wäre, dass keiner mehr verhungert.