Am 15. September startet bei RTL „Das Supertalent“. Diesmal in der Jury: Thomas Gottschalk. Er hat es nicht leicht neben Dieter Bohlen und Michelle Hunziker.

Wenn die Dezibelstärke von Applaus ein Gradmesser für Sympathie ist, dann steht der Gewinner schon vor Beginn der Show fest. Beifall brandet auf, als ein braun gebrannter Herr in weißen Jeans und Hemd die „Supertalent“-Bühne betritt. Wie auf Kommando erheben sich die Zuschauer von ihren Plätzen und johlen. Dieter Bohlen wird empfangen wie ein Triumphator.

 

Thomas Gottschalk verfolgt es aus dem Augenwinkel. Er sitzt schon wie festgetackert am Jury-Tisch, die Ellenbogen neben den Buzzer gestützt. Es ist sein erster Auftritt bei RTL, seine Premiere als neuer Co-Juror in der Castingshow „Das Supertalent“. Und wie sehr er noch mit seiner neuen Rolle hadert, hat man schon daran gemerkt, wie er den Saal betrat. Bei „Wetten, dass . . ?“ schritt er gravitätisch auf die Bühne. Im richtigen Moment riss er die Arme weit auf, so, als wollte er „die sehr verehrten Damen und Herren“ symbolisch an seine Brust zu drücken.

Freundlicher Applaus

Das war einmal. Keine Pose mehr. Kein Outfit mehr, wie es Zirkusdirektoren tragen. Beinahe beiläufig federt er zur Tür herein, in T-Shirt und Anzug. Freundlicher Applaus, mehr ist hier nicht zu holen. Im Tempodrom gibt es an diesem Abend noch freie Plätze. Es heißt, Zuschauer bekämen inzwischen Geld, um die Lücken bei der Aufzeichnung zu schließen. Sie könnten Thomas Gottschalks Enkel sein.

Es sind Teenager mit kurzen Röcken, Hüten und „Adidas“-Sporttaschen um den Hals. Knackiges Schwenkfutter, wie es RTL liebt. Sie empfangen ihn, wie man einen Onkel aus Amerika empfängt, der gerade wieder auf Heimatbesuch ist. Der Moderator Daniel Hartwich hat ihnen schonend beigebracht, warum der Neue länger als Michelle Hunziker in der Maske verbracht hat, wenn auch nicht ganz so lange wie Dieter Bohlen „Die Herren mussten noch zum Stuckateur.“

Das ist also ist Thommys neuer Arbeitsplatz, ein Schreibtischjob auf der Bühne von RTL, im Schatten eines Kollegen, der jahrelang sein härtester Konkurrent war. Ein Paar wie Ernie und Bert. Dort der Titan aus Tötensen, der für seine pointierten Kommentare ebenso geliebt wie gefürchtet wird. Hier der Mann aus Malibu, der mit viel Worten nichts sagt und gerade darum good vibrations verbreitete. Jetzt sollen sie gemeinsam Unterhaltung für die ganze Familie produzieren.

Kandidaten furzen Lieder

„Das Supertalent“, das ist die Tüte Haribo Colorado unter den Casting-Shows. Hier bekommen die eine Chance, die woanders durchs Raster fallen würden, weil sie zu alt oder zu jung sind. Oder weil ihre Performance jede Definition von Talent sprengt. Kandidaten, die Lieder furzen können, hätten ihr Glück früher in einer Freakshow versucht. Heute reicht das schon für einen Auftritt beim „Supertalent“ – und auch für einen bei „Wetten, dass . . ?“ Die Grenze zwischen RTL und ZDF ist längst fließend geworden, seit beide Formate am Samstagabend miteinander konkurrieren. Schneller, schräger, schriller: diesem Trend ist auch das Zweite hinterhergehechelt.

Wohin der aberwitzige Quotenkampf führte, ist bekannt. Ein Wettkandidat, der in der Show einen schweren Unfall hatte, sitzt heute im Rollstuhl. Thomas Gottschalk warf das Handtuch. Von einer Sinnkrise war die Rede, vom Überdruss am Showgeschäft. Der Entertainer begann noch einmal von vorne, als Sandmann bei der ARD. Neuer Sender, neues Pech.

Entsprechend verblüfft reagierte die Öffentlichkeit, als Gottschalk nach dieser Pleite bei RTL anheuerte. Das „Supertalent“ hat schon viele Talente verschlissen, aber nur einen fanden alle super: Dieter Bohlen. Die Jury hat es nicht leicht mit ihm. Super-Dieter eilt der Ruf voraus, er dulde nur Stichwortgeber an seiner Seite, wenn möglich: hübsch. Diese Planstelle ist jetzt mit Michelle Hunziker besetzt.

Hunziker kommt auf Stilettos

Ein unverhoffter Karriereschub für Gottschalks blondere Hälfte. Bei „Wetten, dass . . ?“ durfte sie nur einspringen, wenn ihr Chef wieder die Namen seiner Gäste vergessen hatte. Jetzt gehört ihr die Bühne alleine, wenn sich Kandidaten für die nächste Runde qualifiziert haben. Sie kommt dann auf Stilettos hinter dem Tisch hervor, um ihnen eine Medaille umzuhängen, Bussi hier, Bussi da.

Warum tut sich Gottschalk das an?

In den Pausen wirkt ihre bloße Präsenz deeskalierend an dieser neuen Front der TV-Unterhaltung. Es herrscht Funkstille zwischen den Männern an ihrer Seite. Bohlen ignoriert seinen neuen Kollegen, so gut es geht. Und man fragt sich: warum tut sich Gottschalk das an? Diese Frage steht übergroß im Tempodrom. Die Veranstaltungshalle hat die Form eines Zirkuszelts, das passt gut zum Charakter dieser Show.

Die ohrenbetäubende Hupe, die ertönt, sobald einer der Juroren auf den Buzzer drückt, um peinliche Auftritte zu beenden. Die Kamera, die an unsichtbaren Drähten durch die Luft saust, um die spektakulärsten Momente einzufangen. Ein Publikum, das Verlierer gnadenlos ausbuht.

Zum Beispiel Rosi. Sie ist 45 Jahre alt und arbeitslos, aber sie hat ein Schwein. Es heißt Willi, schläft bei ihr im Bett und folgt ihr auch sonst überall hin, sogar zu RTL. Jetzt steht Willi auf der Bühne und weiß nicht weiter. Es geht ihm da wie Rosi. Sie hyperventiliert vor Aufregung. Super-Dieter ist not amused. „Kommt noch was?“, fragt er. „Sonst würde ich sagen, das Talent ist unter aller Sau“. Schnell, Herr Hartwich, fordert er, bitte den Metzger holen.

Der Moderator ist strenger geworden

Und Gottschalk? Auch er ist strenger als sonst in seinem Urteil. Die Wurschtigkeit ist weg, er gibt jetzt den Bohlen light. Einer russischen Pianistin, die eine Filmmusik nachklimpert, bringt er bei, dass sie sich im Sender geirrt habe: „Du bist zu schade für RTL.“ Und den Schauspielern eines ungarischen Schattentheaters gibt er zu verstehen, dass ihr Auftritt ihn gelangweilt habe: „Ich habe das vor Jahren schon mal bei ‚Wetten, dass . . ?‘ gesehen. Wenn man das mehrmals guckt, ist der Zauber weg.“

Nur für Rosi wählt er versöhnlichere Worte. Also, er finde es sympathisch, dass mal jemand hereinkomme und zugebe, dass er nichts könne, sagt er. Da schimmert er durch, der öffentlich-rechtliche Gottschalk. Bei seiner „Wetten“-Sendung haben ihn die Zuschauer für diesen lakonischen Ton geliebt. Im Tempodrom geht der Satz im Gebuzzer unter. Es geht ihm ein bisschen wie der russischen Pianistin. Er ist zu schade für RTL.

Eine TV-Kritikerin hat deshalb vorgeschlagen, eine Kommission müsse her, die Prominente davor bewahre, sich selber runterzuwirtschaften. Die Kommission zur unfreiwilligen Selbstkontrolle (KUS). Sie meinte das im Spaß, doch wie ernst es wirklich um den prominentesten Testfall für diesen TÜV steht, wird kurz vor Ende der Sendung deutlich.

Im Publikum brüllt irgendwer „Haribo“. Es ist ein Zeichen des Himmels, und es scheint, als habe Thomas Gottschalk schon den ganzen Abend darauf gewartet. Für einen Augenblick gehört die Bühne ihm ganz allein. Dem Onkel aus dem ZDF, von dem keiner weiß, was er hier soll. Jetzt liefert er ihnen die Antwort. Er greift in den Sack seines Sponsors und holt weit aus. Es regnet Gummibärchen.