Wichtiger Knotenpunkt im Netzwerk der freien Tanz- und Theaterszene Baden-Württembergs ist derzeit Stuttgart und das Theater Rampe. Noch bis Samstag treffen sich hier Künstler zum Festival „6 Tage frei“ – und zum Austausch.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Das Festival „6 Tage frei“ ist noch jung, da hat es schon bewiesen, was später noch als Frage über einer Diskussionsrunde steht: Ja, solche Ereignisse sind wichtig. Darüber herrschte Einigkeit, als sich am Dienstag im Foyer des Jes Festivalmacher aus ganz Deutschland zusammensetzten und darüber nachdachten, welche Plattformen die freie Szene braucht. Denn das Motto der ersten von drei Gesprächsrunden, „Festival erwünscht“, schwebte unausgesprochen bereits über der Auftaktveranstaltung am Montag im Theater Rampe. Die beiden starken Männer des Overhead Projects gingen da in ihrem vom Wrestling inspirierten Stück „Carnival of the Body“ so zupackend zur Sache, dass einem in der von weiblichen Perspektiven dominierten Stuttgarter Tanzszene nur das Staunen blieb. In Köln beheimatet, ist das Akrobatenduo Tim Behren und Florian Patschovsky über den Koproduzenten, das Choreographische Centrum Heidelberg, zum Landesfestival gestoßen.

 

Mitgebracht hat dieses Kölner Overhead Project einen Mix aus Tanz und zeitgenössischem Zirkus, so gelingt eine Balance zwischen Kunst, Ironie und Kraftmeierei. Was ist echt, was ist Illusion? Im Wrestling wie auf der Bühne, wo die beiden Akrobaten aufeinandergetürmt tanzen und spektakulär stürzen, geht es um Vertrauen und Verrat, um oben und unten. Beeindruckend ist „Carnival of the Body“ auch, weil es den Ausnahmezustand der Körper zur Folie macht für drängende gesellschaftliche Fragen.

Die Sichtbarkeit der freien Szene

Wegen solcher Begegnungen ist ein Festival nicht nur eine tolle Auszeit im gewohnten Kulturprogramm, es bringt auch kleine Produktionen, Haltungen und Themen zu einem Publikum, dessen Seh-Auswahl ohne den vorgegebenen Rahmen anders ausgefallen wäre. Dass sich bei „6 Tage frei“ noch bis Samstag Tanz und Theater mischen, erhöht die Trefferquote, mit Neuem konfrontiert zu werden. Ebenso, weil neun Preisträger auf der Bühne stehen. Ein gutes Konzept also, das auch beim Publikum ankommt – und auch ein relativ neues, das zum zweiten Mal als Landesfestival der freien Szene umgesetzt wird.

Dessen Vorgeschichte streifte in seiner Eröffnungsrede der Stuttgarter Kulturbürgermeister Fabian Mayer, der noch den Schulranzen auf dem Rücken trug, als der Theaterpreis 1988 von der Stuttgarter Zeitung aus der Taufe gehoben wurde. Knapp dreißig Jahre später, so Mayer, habe sich der Preis zur „exklusiven Kulturplattform entwickelt“. Auf ihr gehe es noch bis Samstag um den Austausch der freien Szene, aber auch darum, ihre interdisziplinären Praktiken vorzustellen und ihre Sichtbarkeit in der Stadt zu erhöhen.

Am Dienstag durfte man dann als Nomade im Doppeldeckerbus, der die Festivalgäste vom ersten Spielort des Tages, dem Ex-Theaterhaus in Wangen, zurück in die Rampe brachte, über einige Attribute der freien Szene nachdenken, die Martina Grohmann am Vorabend ins Spiel gebracht hatte. „Die freie Szene gibt es nicht – und das ist eine gute Nachricht!“, hatte die Intendantin der Rampe, die mit ihrer Kollegin Marie Bues das Festival leitet, ihren Gästen zur Eröffnung mit auf den Weg gegeben. Unübersichtlichkeit als Qualität? Muss die freie Szene so sein, wie sie ist, also an keinen Ort gebunden, vielstimmig, oft prekär finanziert, um schnell auf gesellschaftliche Themen reagieren zu können und zu wollen?

Milo Rau gibt das Niveau vor

Um aktuelle Fragen ging es in beiden Stücken am Dienstag. Sowohl „Achtzehn Einhundertneun – Paradies“ vom Citizen-Kane-Kollektivals auch Christine Chus „Arirang – Wo ist Nordkorea?“ hatten in Stuttgart ein Heimspiel. Gemeinsam ist beiden Produktionen, dass man ihnen eine strengere dramaturgische Begleitung gewünscht hätte. So verzetteln sich beide, die erste in einem live zusammengewürfelten Mix verschiedenster Medien, dem Dringlichkeit fehlt; die zweite im Blick auf eine Biografie, der wiederholt statt vertieft.

Eine Familie muss damit umgehen, dass die Tochter zum Islam konvertiert und Kopftuch trägt: das Citizen-Kane-Kollektiv setzt sein Publikum mitten hinein in Wohnung und Diskussion. Mit Rockband und Video-Blog sieht das ziemlich zeitgemäß aus. Doch inhaltlich wiederholt „Achtzehn Einhundertneun – Paradies“ nur altbekannte Argumente, nicht so schlimm also, dass man sie – aus vollem Frühstücksmund oder von einer Rückenansicht gesprochen – akustisch nur schwer versteht. Christine Chu gelingt es dagegen, in einer konventionellen, fast meditativen Anordnung mit zwei Musikern zwischen vielen Papierlampions über ein Einzelschicksal, dem ihres aus Nordkorea geflüchteten Vaters, begreifbar zu machen, was Krieg und Vertreibung mit Menschen machen.

Ob es eine dieser beiden Produktionen über den Kritikerpreis zum Gastspiel in die Berliner Sophiensäle schafft? Nicht nur konzeptionell gedachter Tanz, auch inhaltliches Theater habe dort eine Bühne, meint Astrid Kaminski, eine der drei Jurorinnen, gut gemacht müsse es halt sein. Einer wie der Regisseur Milo Rau, der in den Sophiensälen seine „Five Easy Pieces“ um den Fall des Kindermörders Marc Dutroux herausbrachte, gibt das Niveau vor.

Bis Samstag steigen noch fünf Produktionen in Stuttgart in den Ring: am Donnerstag die Rapsoden mit ihrer ultimativen Literaturshow „Inclusio“ (Jes) und Edan Gorlicki mit „The Players“ (Rampe); am Freitag Antje Töpfer mit „3 Akte“ (Jes) und das Post-Theater mit „House of Hope“ (Rampe); am Samstag geht mit „Das Theater“ die Reise nach Michelbach. Es gibt Restkarten.

„Kritik erwünscht“ – unter diesem Stichwort geht es an diesem Donnerstag um 15 Uhr im Jes um die medialen Räume, die sich die freie Szene wünscht. Auf dem Podium sitzen außer der „6 Tage frei“-Kritikerinnenjury auch Nicole Golombek, Redakteurin, und Judith Engel, freie Mitarbeiterin dieser Zeitung. Am Freitag folgt zur selben Zeit im Jes die Fortsetzung der in Stuttgart seit langem kontrovers geführten Diskussion um eine Spielstätte für die freie Szene.