Vor 200 Jahren ist Theodor Fontane als Nachkomme von eingewanderten Hugenotten in Neuruppin auf die Welt. Er ist der Sohn eines Spielers, lernt Apotheker, wird Journalist – und einer der großen Schriftsteller, der sich auch heute noch eine besondere Modernität bewahrt hat.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Beiseite vielleicht einmal einen so genialen Balladenanfang wie „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland . . .“, wo sich der Hip-Hop beim Reimen heute noch was abschauen kann – was wäre sonst auf den ersten Blick ein typischer Satz, aus dem man sofort den Apotheker, Journalisten und Schriftsteller Theodor Fontane sprechen hört? „Zum Schluß stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht.“ Das klingt klar (wie ein Rezept), nach Understatement – und doch: selbstbewusst.

 

Fontanes Kurzusammenfassung seines Romans „Der Stechlin“, seinem letzten und nicht eben schmalsten Buch, erfährt aber noch einen Zusatz, der erklärt, warum die Kommunikation an sich – und eben nicht billiges Drama und normierte Spannungsschürerei – für den Romancier stets das eigentliche Thema gewesen ist: „Alles Plauderei, Dialog, in dem sich die Charaktere geben, und mit ihnen die Geschichte. Natürlich halte ich dies nicht nur für die richtige, sondern für die gebotene Art, einen Zeitroman zu schreiben.“ Diese „Causerien“ wiederum, mit dem Namen Fontane insgesamt allzu gerne assoziiert, wären als Begriff vielleicht mittlerweile in Klammern zu setzen. Fontanes Figuren, die späten zumal, plaudern im Wesentlichen nicht, sondern spielen Worte über Bande wie beim Billard. Und die treffen sich meistens, als wären sie verabredet. „Ich respektiere das Gegebene“, sagt im „Stechlin“ Melusine, die Tochter des Grafen Barby, zu Anfang eines geschickt eingefädelten Gesprächs mit dem fortschrittsgläubigen Pastor Lorenzen, einem Anhänger des christlichen Sozialismus – und fährt fort: „Daneben aber auch freilich das Werdende, denn eben dies Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Gegebenes sein. Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.“

Ein Unzeitgemäßer

„Der Stechlin“ ist aus dem Jahr 1897. Ein Jahr später starb Fontane. Vor zwei Jahrhunderten wurde er geboren, am 30. Dezember 1819. Ein Jubilar also. Aber wen ehren wir eigentlich, übers Jahr verteilt – mit Biografien, digital ausgerichteten Ausstellungen (auf beides wird zurückzukommen sein) in Neuruppin, seinem Geburtsort, und Berlin, seiner Stadt fürs Leben? Es ist, kaum verwunderlich nach diesem Vorspruch: ein Unzeitgemäßer.

Zum Beweis an dieser Stelle noch einmal zurück zum „Stechlin“, der von einer Idee getragen wird, die nicht von ungefähr an Vorgänge der viel später so genannten Globalisierung denken lässt: Nichts anderes als geheimnisvoll globalisiert nämlich ist der Stechlin, ein See in der Grafschaft Ruppin, der in der Provinz zu sprudeln beginnt, sobald die Welt – ob in Island oder auf Java – in Bewegung gerät. Ein kleines deutsches Gewässer, seismografisch vernetzt. Auch Fontanes Personal ist gedanklich der Zeit voraus.

Erwähnter Pastor Lorenzen deutet die Zeichen des beginnenden Umbruchs so: „Früher war man dreihundert Jahre lang ein Schloßherr oder Leinenweber; jetzt kann jeder Leinenweber eines Tages ein Schloßherr sein.“ Durch Lorenzen spricht da uneigentlich-eindeutig Fontane selbst, der brieflich – dort im Ton schneidender als in seinen Büchern – festhielt: „Die neue, bessere Welt fängt erst beim vierten Stande an.“

Talent und schlechte Hosen

Das war ein Satz, an dem die DDR-Philologie sehr viel Freude hatte, erlaubte er ihr doch, von manchem Ambivalenten an Theodor Fontane abzusehen und ihn ihrerseits vorderhand als Porträtist einer vorrevolutionären Zeit zu zeichnen. Tatsächlich war Fontane, Nachfahre eingewanderter Hugenotten („mit nichts ausgerüstet als einem poetischen Talent und einer schlecht sitzenden Hose“), Sohn eines Spielers, selber Apotheker, Revolutionär (1848), Kriegsberichterstatter, Journalist (da besonders wegweisend als Theaterkritiker und Förderer der „Freien Bühne“ in Berlin) und dann, sehr spät erst, Schriftsteller, zwischen allen Fronten daheim und ist es bis an sein Ende geblieben. Aber: Als die Züge massenhaft angefahren waren im neunzehnten Jahrhundert, die Telegrafendrähte glühten und selbst Otto von Bismarck das Telefon benutzte, behielt sich Fontane eine besondere Stellung vor. Er stand, obwohl längst ein alter Mann, nicht im Abseits, sondern transformierte den Wandel und die enormen gesellschaftlichen Brüche vor der Jahrhundertwende ins Zentrum seiner Romanhandlungen. Effie Briest und ihre Schwestern waren in ihrem Nonkonformismus oder Pragmatismus (Mathilde Möhring) den Zeitläufen und vor allem oft den Männern voraus; jedenfalls war es so bei Fontane zu lesen – und zwar täglich. Zur modernen „Berliner Zeitung“ von vor über einem Jahrhundert gehörte ein Fontane in Fortsetzungen, und die bekamen deshalb so viel Zu- aber auch Widerspruch (die unstandesgemäße Liebe zwischen Lene und Botho von Rienäcker in „Irrungen, Wirrungen“ war noch 1888 ein echter Skandal), weil der Autor sich als Meister darin zeigte, den richtigen Moment festzuhalten: Eine neue Welt kommt, eine alte geht. Während der Adel dem Untergang geweiht war, bereitete sich die Moderne auf den Durchbruch vor. Es entstand eine Gesellschaft voller Erfinder und Umbrüchler. Zwischen den Altvorderen und den Avantgardisten aber stiftete Fontane ein Band. Mit Maß bereitete er seine Leser auf eben diese Moderne vor, indem er darauf achtete, mehrere Meinungen zuzulassen. Von unanfechtbaren Wahrheiten hält nicht nur der Junker Dubslav von Stechlin nicht viel, „und wenn es welche gibt“, sagt er, „so sind sie langweilig“.

Im Scheitern erfahren

Mit dem individuellen Scheitern in einer sich rapide entwickelnden Gesellschaft vertraut, nahm Fontane darüber hinaus schon ein sehr heutiges Lebensgefühl vorweg: Existenzangst. Seine Figuren haben immer etwas zu verlieren – und verlieren es auch häufig, woraufhin sie, wenn sie nicht krank werden oder im Selbstmord enden („Effie Briest“, „Schach von Wuthenow“), meistens nach dem Wort des Kommerzienrates von der Straaten handeln, der in „L’Adultera“ noch in der größten Not gelassen bleiben will: „Es wird sich alles zurechtrücken!“ Fontanes Charaktere müssen lernen, mit der Freiheit zu leben und gleichzeitig in der Ungewissheit existieren. Nicht nur insofern sind sie uns seelisch immer noch recht nahe Verwandte, und ein Besuch von Theodor Fontanes Büchern ist öfter eine Art Offenbarung.