Viele Bürger der damaligen DDR beschweren sich, immer noch wie Bürger der zweiten Ordnung behandelt zu werden. Sie richten sich gegen die vermeintliche oder echte Arroganz Westdeutscher, gegen die behauptete oder tatsächliche Übernahme der entscheidenden Positionen in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft durch Westdeutsche. Jene hätten sich ihr Bild von Ostdeutschland nach 1990 erfunden, um dessen Bürger zu degradieren und zu demütigen, klagen Autoren wie der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann. Eine gemeinsame deutsche Geschichte ist 35 Jahre nach der friedlichen Revolution nicht in Sicht. Doch nur wenn es gelingt, auch die Geschichte der DDR, die Verflechtungen und Abhängigkeiten zwischen den beiden deutschen Staaten angemessen zu erforschen, zu schildern und zu berichten, entsteht so etwas wie eine gemeinsame Nachkriegsgeschichte, deren Wurzeln in Ostberlin und Bonn liegen.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Vierzig Jahre lang war der Osten keine Erfindung des Westens – eher war es umgekehrt. Der Westen lieferte den Maßstab für die Angelegenheiten des Ostens. Westkontakte, -fernsehen, -jeans und -musik waren die Unterscheidungsmerkmale in der vermeintlich klassenlosen Gesellschaft der DDR. Sie entschieden über Status und Zugehörigkeit, wenn man sie hatte – oder wenn man sie ablehnte. Milliardenschwere Westkredite stabilisierten die DDR als Staat mindestens ebenso, wie sie durch Westbesuche und -pakete herausgefordert wurde. Das wirkt bis heute nach.
„Nicht nur meine Generation ist damit groß geworden, das Maß aller Dinge im Westen zu suchen; auch das, was man Nationalgefühl nennt, verschwand wohl in diese Richtung.“ So urteilte der Lyriker Rainer Schedlinski zum letzten DDR-Geburtstag am 7. Oktober 1989. Schedlinski, der später als Stasimitarbeiter enttarnt wurde, rechnete erbarmungslos ab: Die DDR „hat allen Dingen das westliche Maß auferlegt, jetzt muss sie den Vergleich auch aushalten“.
Eine beispiellose Entwertung von Biografien
Sie hielt und hält ihn nicht gut aus. In den ersten vier Jahren nach der Einheit, so rechnete der Soziologe Steffen Mau vor, wechselten rund zwei Drittel der Erwerbstätigen ihre Stelle mindestens ein-, manche sogar zwei- oder dreimal, meist unfreiwillig. Vierzig Prozent machten die Erfahrung, arbeitslos zu werden. Die über Fünfzigjährigen retteten sich irgendwie über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den Vorruhestand. Die etwas Jüngeren hatten diese Option nicht – viele von ihnen erfuhren eine beispiellose Entwertung ihrer Qualifikation: 1990 Brigadier, 1992 Vertreter einer Versicherung, 1994 Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Das waren übliche Karrieren, denen man normalerweise nur durch weite Pendelstrecken oder einen zeitweiligen Umzug nach Westdeutschland entging. Die Arbeitsgesellschaft der DDR zerbrach unter den Bedingungen der Marktwirtschaft.
Dabei war der Elitentausch nach 1989 keine Erfindung Westdeutschlands gewesen, genauso wie die meisten Weichenstellungen des Jahres 1990 auf Beschlüsse der DDR-Volkskammer und der ersten frei gewählten Regierung der DDR zurückgingen: Die Bürgerrechtler der Runden Tische hatten durchgesetzt, dass es für die Mitarbeit in der Staatssicherheit kein Pardon geben sollte. Wer vorher eine entscheidende Rolle in den Verwaltungen, Kombinaten und Universitäten der DDR gespielt hatte, musste im Zweifel weichen. Doch auch für die wenigsten der Unbelasteten gab es Aussicht auf berufliche Erfüllung. Chefredakteure, Vorstandschefs, Chefärzte oder Lehrstuhlinhaber wurden auch diejenigen nicht, die keine Kontakte zur Staatssicherheit gehabt hatten.
Dafür setzte sich schon 1990 der Treck in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung. Hunderttausende Babyboomer verließen ihre Ausbildungsstellen und die Universitäten, ohne dass sie im Westen auf zügiges Vorankommen hoffen durften. Der Aufbau Ost war ihre Rettung.
Der DDR fehlte Know-how, im Westen war es überreichlich vorhanden. Unbelastete Biografien – nur der Westen hatte sie zu bieten. Die Neuen sorgten dafür, dass die Konventionen und der Stallgeruch der DDR rasch den westdeutschen Gewohnheiten wichen. „Wie komme ich, nachdem ich gelernt hatte, mit der Tyrannei zurechtzukommen, mit der Demokratie zurecht? Ich war weiß Gott westdumm, brauchte etliche Jahre, um überhaupt dahinterzukommen, wie elend es mir nach 1976 ging“, bilanzierte der Liedermacher Wolf Biermann zehn Jahre nach seiner Verbannung. Die DDR-Bürger wollten keine Exilanten im eigenen Land sein – und sind es erst einmal doch geworden. Sie kannten die Sprache und die Codes des Westens nicht, sie waren nicht „ähnlich“ genug, um umstandslos befördert zu werden.
„Ringsum konnte ich beobachten, wie ausschlaggebend ein paar Jahre waren. Wäre ich fünf Jahre älter gewesen (. . .), es wäre mit Sicherheit schwerer geworden, im neuen Land Fuß zu fassen. Wäre ich fünf Jahre jünger gewesen, hätte ich mir gewiss die Nationale Volksarmee und anderen Unsinn erspart, wäre aber vielleicht anfällig gewesen für die Verklärung des Ostens zum putzigen Paradies.“ So beschrieb der Publizist Jens Bisky seine Haltung als Mittzwanziger in den neunziger Jahren.
Die Ostdeutschen wollten die Vereinigung
Die älteren DDR-Bürger waren die Helden des Jahres 1989, der Westen hatte nur zugeschaut. „Man kann natürlich fragen, ob die Massen vom Oktober (. . .) überhaupt revolutionär waren, wenn sie sich schon im Januar zu einer imaginären Warteschlange für den Beitritt zur Bundesrepublik verwandelten“, mäkelte der in Sachsen geborene und im Westen studierte Journalist Klaus Hartung, als diese Bewegung im Winter 1989/90 seltsam stecken blieb. In der Revolution übernahm jetzt der Westen das Steuer und versuchte, der Sache eine Richtung zu geben.
Sollte es ein neues Land werden oder eine Vereinigung auf Basis der Bundesrepublik? Die Antwort wurde mit den Volkskammerwahlen im März 1990 gegeben. Es mag mancher im Osten vergessen haben, aber: Die Ostdeutschen wollten in ihrer Mehrheit die Vereinigung mit der Bundesrepublik. Der Weg dahin schien ihnen immer gleichgültiger zu werden. Sie begaben sich wieder in den Schatten, in dem sie vierzig Jahre lang unzufrieden gewesen waren.
Das ist wichtig. Denn bevor der Westen seine Überlegenheitsattitüde ausspielte, der westdeutsche Helmut Kohl als „Kanzler der Einheit“ die Aufgabe der Revolutionäre übernahm und den gewählten DDR-Ministerpräsidenten de Maizière an die Wand spielte, zerfleischten sich die neuen politischen Parteien der DDR in Stasiaffären und Aufarbeitungsdebatten und bettelten die Ex-Blockparteien um aussichtsreiche Listenplätze bei den Westschwestern.
Am Ende gabs den Beitritt – die zweitbeste Lösung
Woher hätten die DDR-Bürger auch wissen sollen, wie es geht, fragte der Soziologe Mau. Aber hätte der Westen wissen können, dass es besser geht? Es war eine merkwürdige Mechanik am Werk, die der Bundesrepublik die meisten Entscheidungen über das „Wie“ zuwies. Die meisten DDR-Bürger wollten weder auf die D-Mark noch auf die Einheit warten. Die Migrationsströme verstärkten sich nach dem Fall der Mauer noch. Je skeptischer westdeutsche Ökonomen, Politiker und Gesellschaftswissenschaftler gegen eine schnelle Einheit und eine überhastete Währungsunion argumentierten, je unsicherer die Zustimmung der Sowjetunion zu den Entwicklungen erschien, desto entschlossener wirkte die andere Seite: Würde die Einheit nicht schnellstmöglich ins Werk gesetzt, würde die DDR sich in eine unkontrollierbare Kernschmelze stürzen. Eine zentrale Rolle in diesem Prozess hatte das Bonner Grundgesetz. Der Verfassungsauftrag an die Deutschen lautete, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Wenn also ein deutscher Staat Teil der Bundesrepublik werden wollte, hatte das zu geschehen. Zwei Wege waren möglich: der Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes, durch den die DDR sich unter die Gültigkeit der westdeutschen Verfassung begeben konnte. Oder Artikel 146, der ein völlig neues, kreatives Deutschland möglich gemacht hätte: „Das Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tag, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Sicher, die Westdeutschen hatten gute Erfahrungen mit dem Grundgesetz gemacht. Die Bundesrepublik sah eigentlich keinen Anlass, es zugunsten einer Neufassung aufs Spiel zu setzen. Dazu kam: Die DDR hatte keine Zeit mehr. Die Wirtschaft brach zusammen, die innere Ordnung zerfiel.
Mürrisch beschloss das DDR-Parlament deshalb am 23. August 1990 den Beitritt zum Bundesgebiet nach Artikel 23. Ein Fest war das nicht, im Gegenteil. Ein Teil der Abgeordneten fühlte sich furchtbar übers Ohr gehauen. „Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 beschlossen“, gab der PDS-Abgeordnete Gregor Gysi zu Protokoll: „Die DDR, wie sie auch immer historisch beurteilt werden wird, war für jeden von uns mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen das bisherige Leben. So wie wir alle geworden sind, sind wir hier geworden.“
Ein Land muss die Einheit erst noch finden
Gysi hatte recht. Doch derselbe Gysi antwortete später auf die Frage, was er besser gemacht hätte: „Wäre die DDR 1985 noch zu retten gewesen? (. . .) Ich glaube nicht. (. . .) 1961 musste dieser Staat seine Bürger einmauern, weil sie ihm wegliefen – und danach liefen sie ihm weg, weil er sie eingemauert hatte und weil scheinbar in der anderen deutschen Republik der Wohlstand für alle blühte. (. . .) Unter solchen Umständen wäre eine DDR nicht zu halten gewesen.“
Auch wenn der in Deutschland geborene und von den Nazis vertriebene amerikanische Historiker Fritz Stern von der „zweiten Chance für Deutschland“ sprach, „seine Kraft, seinen Reichtum, sein Streben für den Frieden und die Vernunft“ zum Wohle Europas einzusetzen, war Deutschland doch, so der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in der Bonn-Berlin-Debatte des Deutschen Bundestages, ein Land, „das seine innere Einheit erst noch finden muss“.
Das ist bis heute wahr.