Flucht, Trennung und die unheilbaren Wunden, die diese Tragödien schlagen: Das ZDF hat Ursula Krechels preisgekrönten Roman „Landgericht“ über das Schicksal einer jüdisch-christlichen Familie überzeugend verfilmt.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Mainz - Das jüdisch-christliche Ehepaar Kornitzer sieht keinen anderen Ausweg mehr: Es hat sich entschieden, die beiden Kinder Georg und Selma mit dem jüdischen Kindertransport nach England zu schicken, um sie vor der Verfolgung durch die Nazis zu schützen. Liebevoll bereiten sie ihnen ein letztes gemeinsames Frühstück; sogar Kuchen steht an diesem dunklen Morgen im Jahr 1938 in der Berliner Wohnung auf dem Tisch. Hier eine zärtliche Geste, dort ein unbekümmerter Wortwechsel, doch die stummen Blicke der Eltern leuchten tief hinein in ihr aufgewühltes Inneres.

 

Mit diesen Szenen beginnt der ZDF-Zweiteiler „Landgericht – Geschichte einer Familie“ nach dem Roman „Landgericht“ von Ursula Krechel. Heide Schwochow (Drehbuch) und Matthias Glasner (Regie) erzählen in zweimal 105 Minuten von einer Familie, die aufgrund der Verfolgung durch die Nazis zerbricht, in alle Winde zerstreut wird und sich unumkehrbar entfremdet. Richard Kornitzer (Ronald Zehrfeld), ein jüdischer Richter, emigriert nach Kuba; seine Frau Claire (Johanna Wokalek), eine Filmemacherin, bleibt in Berlin zurück. Von den Nazis entrechtet, ihrer materiellen Güter beraubt, kommt sie am Bodensee auf einem Bauernhof unter. Die Kinder leben zunächst in Nordengland bei herzlosen Pflegeeltern, dann als obdachlose Waisen in Londons Kriegstrümmern, bevor sie bei einer Familie in der Provinz endlich heimisch werden.

Flucht, Trennung und die unheilbaren Wunden, die diese Tragödien schlagen: Die Aktualität des historischen Zweiteilers war kein Kalkül. Die Entscheidung, Krechels 2012 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman zu verfilmen, fiel, bevor Menschen in großer Zahl begannen, übers Mittelmeer aus den arabischen Krisengebieten nach Europa zu fliehen. Erklärtes Ziel der Produktion hingegen: Den Opfern, die den Holocaust und den Krieg im Exil überlebten, „eine Stimme und ein Gesicht“ zu geben, wie der ZDF-Programmdirektor Norbert Himmler sagt. In ruhigen Bildern, psychologisch differenziert, schildert das Drama, wie das Trauma der Trennung nie überwunden wird und sich die Hoffnung, nach dem Krieg, Wiedergutmachung zu erfahren, nicht erfüllt.

Die Familientragödie beruht auf dem historischen Vorbild des Berliner Juristen Robert Michaelis und seiner Frau Luise. Allerdings hat Krechel Wahrheit und Fiktion gehörig vermischt. Es lohnt sich daher, die an den ersten Teil anschließende Dokumentation zu sehen. Anstatt wie Kornitzer nach Kuba zu fliehen und dort eine neue Familie zu gründen, emigrierte Michaelis nach Shanghai, wo er in einem jüdischen Getto unter unmenschlichen Umständen interniert wurde, aber überlebte.

Kritik an den literarischen Freiheiten in der Erzählung

Emigranten schlug im Nachkriegsdeutschland das Vorurteil entgegen, Drückeberger gewesen zu sein; die Romanfigur Kornitzer führt auf Kuba tatsächlich ein vergleichsweise geordnetes Leben. Bei der Aufarbeitung der Geschichte der Judenverfolgung nicht bei der Wahrheit zu bleiben, betreibe das Geschäft all jener, die nur darauf warteten, den Holocaust zu relativieren, kritisiert der „Spiegel“ Krechels literarische Freiheit in diesem heiklen Punkt.

Die Abweichung von der Wahrheit kann Heide Schwochow in ihrem Drehbuch zwar nicht korrigieren, aber sie verdichtet die Vorlage fernsehgerecht, meißelt die Figuren nuanciert heraus. Filmemacher wie Darsteller lassen, sowohl was die inneren Konflikte als auch die Zeitumstände angeht, vor allem das Nicht-Gesagte, das nur am Rande Gezeigte sprechen – darin liegt die große Stärke des Dramas. Ronald Zehrfeld und Johanna Wokalek spielen souverän, vor allem Wokalek kann mit kleinsten Schattierungen von großer Tragik erzählen. Auch die Nebenrollen sind prominent besetzt: etwa mit Barbara Auer als Sekretärin am Mainzer Landgericht, Felix Klare als Nazi-Richter, Christian Berkel als jüdischer Antiquitätenhändler.

Auch nach dem Krieg findet die Familie nicht wieder zueinander

Claire spürt nach dem Krieg sowohl ihre Kinder als auch ihren Mann auf. Der Versuch, zumindest Selma nach Deutschland zu holen und wieder an sich zu binden, scheitert – und damit ihr Lebensziel, die Familie zu kitten. Richard findet in Mainz zwar einen Posten als Landgerichtsrat, ihm wird ein prominenter Prozess übertragen. Doch er muss erleben, wie die alten Nazis auf den neuen Posten sitzen. Er verstrickt sich in seinen Kampf um Rehabilitation und Wiedergutmachung und wird zur Michael-Kohlhaas-Figur.

„Landgericht“, von Ufa Fiction produziert, scheint sich auf den ersten Blick einzureihen in Nico Hofmanns Zweitverwertung der deutschen Zeitgeschichte. Doch Glasner verzichtet auf „Historienbombast“, die Inszenierung der üblichen historischen Versatzstücke der Zeit. Nazi-Symbolik, Kriegsgewalt, KZ-Elend, all das sieht man nicht; der Holocaust wird nur in einer flüchtigen Replik Richards gestreift. Dennoch spricht aus nahezu jeder Szene die Versehrtheit der Kornitzers, die tragische Zerstörung ihrer Existenzen.

Sendetermine: Das ZDF zeigt den Zweiteiler am 30. Januar und 1. Februar 2017, jeweils um 20.15 Uhr. Im Anschluss an den ersten Teil folgt um 21.50 Uhr „Landgericht – Die Dokumentation“.