In einem Alter, in dem andere in ihrem Beruf so richtig durchstarten, stehen Tänzer häufig vor dem Aus: Nach langer Ausbildung und einer intensiven, aber kurzen Bühnenkarriere müssen sie sich neu orientieren. Ehemalige Tänzer des Stuttgarter Balletts berichten aus ihrem zweiten Leben – heute: Marieke Lieber.

Stuttgart - Wenn Tänzer mit Mitte 30 ihre Karriere beenden, ist der Wechsel in einen neuen Beruf eine ziemliche Umstellung. Marieke Lieber war lange Gruppentänzerin des Stuttgarter Balletts und hat wegen ihrer Schwangerschaft von heute auf morgen ihre Bühnenkarriere beendet. Inzwischen ist sie als Tanzpädagogin im pädagogischen Bereich des Stuttgarter Balletts tätig, das unter dem Stichwort „Jung“ Schülern Angebote macht. „Das Ende der Ballettlaufbahn kam sehr plötzlich“, erinnert sich Marieke Lieber, die nach langen Jahren in Stuttgart 2004 an das damals von Mauro Bigonzetti geleitetete Aterballetto wechselte, dann aber bald schwanger wurde. „Mir war von Anfang an klar, dass ich aufhören muss. Mit Kindern kann ich nicht Vollzeit als Tänzerin arbeiten.“ Der Zeitpunkt für den Ausstieg kam aber nicht unerwartet: „Ich war gerade 30“, sagt Lieber; ein Alter, in dem Tänzer ohnehin anfangen, ans Aussteigen zu denken.

 

„Erst wollte ich etwas ganz anderes machen“, sagt Lieber und hatte an eine Tätigkeit im Bereich Pilates oder Fitness gedacht. Dann meldete sich aber das Stuttgarter Ballett auf der Suche nach einer Produktionsassistentin für Marco Goeckes „Nussknacker“. Weiter Angebote folgten: Die Abteilung „Jung“ des Stuttgarter Balletts bat sie, an Projekten mitzuwirken. Zunächst als Aushilfe, dann als Tanzpädagogin, ihre Söhne sind inzwischen neun und zehn, engagiert sie sich momentan besonders für das spartenübergreifende Schulprojekt „Impuls Musiktheatertanz“ und für die Zusammenarbeit mit internationalen Vorbereitungsklassen.

Tanz als Integrationsfaktor für internationale Schüler

Wie hat sich Marieke Lieber für den Umstieg gerüstet, wie schwer fiel ihr der Wechsel? „Körperlich hatte ich gar keine Probleme“, sagt sie, was sie auf die Schwangerschaft zurückführt. Sie genoss es, mal alle Fünfe gerade sein zu lassen und keinem Karrieredruck ausgesetzt zu sein. Auf den beruflichen Neubeginn hat sie sich bereits während ihrer aktiven Zeit vorbereitet: „Ich habe vormittags an einer Zusatzausbildung zur Tanzpädagogin bei Alexander Chmelnitzky teilgenommen.“ Hier hat Lieber gelernt, wie man Kindern anschaulich Tanz vermittelt und welche Bewegungen sich für welche Klassen eignen. Ihr neues Aufgabenfeld ist aber etwas anders gelagert: „Ich arbeite im Brennpunkt Förderschulen und internationale Vorbereitungsklassen“, erklärt Lieber. „Dazu brauche ich Intuition. Vieles ist auch Erfahrung“, hat sie festgestellt. Natürlich hat sie auch entsprechende Kurse besucht, etwa Fortbildungen bei den Tanzpädagogen Alan Brooks und Volker Eisenach. Tanzpädagogik kann man sogar studieren, weiß sie. Etwa in Mannheim oder Dresden.

In der zurückliegenden Saison begleitete sie jeweils gemeinsam mit einem Kollegen vier Jugendprojekte. „Wir arbeiten immer zu einem Thema, das am Haus läuft“, erzählt sie. Wie zum Beispiel John Crankos „The Lady and the Fool“, mit dem sich die jungen Teilnehmer von „Impuls Musiktheatertanz“ befassten. Die Tanzpädagogen kooperieren dazu mit Grundschulen und Werkrealschulen. An etwa zehn Terminen beschäftigen sich die Schüler mit dem Stück und entwickeln eigene Bewegungen. „Wir achten dabei viel auf die Körperhaltung und -sprache, die ja auch beim Vorstellungsgespräch eine Rolle spielen.“ Die Tanzpädagogen wollen das Selbstvertrauen, die Bewegungsfreude und das Körpergefühl der Schüler stärken.

Tanz hilft Sprachbarrieren überwinden

„Die Arbeit in den Schulen gestaltet sich anfangs oft sehr schwierig, da sich die Kinder erst auf das Tanzprojekt einlassen müssen“, so Lieber. „Doch oft wird ein schwerer Weg am Ende durch die große Freude und das Aufblühen der Kinder und Jugendlichen belohnt, da bekommt man ganz viel zurück“, ergänzt sie.Das Projekt schließt mit einer Vorstellung an der Schule ab; für diese erarbeiten die Jugendlichen ein etwa fünfminütiges Stück zur originalen Ballettmusik. „Das ist für die Schüler sehr aufregend, und sie sind wahnsinnig stolz“, sagt Lieber. Beim Projekt „Jung international“ führt sie internationale Vorbereitungsklassen in die Welt des Tanzes ein. Das Tolle daran: „Mit Tanz können sie auch ohne Kenntnis der Sprache viel vermitteln.“

Marieke Lieber arbeitet als Tanzpädagogin freiberuflich, fühlt sich aber durchaus gut ausgelastet: „Ich bekomme viele Anfragen und muss aufpassen, dass ich mich nicht verzettle.“ Mittlerweile hat sie eine weitere Aufgabe übernommen: Sie unterrichtet an der John-Cranko-Schule die Vorbereitungsklassen 1 und 2. Außerdem führt sie Familien und Schulklassen durch das Staatstheater, wie das auch die ehemaligen Tänzerinnen Julia Krämer und Marion Jäger tun. Liebers Beruf lässt sich gut mit der Familie vereinbaren: „Die Projekte finden vormittags in den Schulen statt.“ Ballett trainiert sie übrigens nicht mehr, sondern macht Pilates. Sehnsucht nach dem Tanz verspürt sie kaum noch. Nur wenn in John Crankos „Onegin“ das Corps de ballet über die Bühne schwebt, kommt die Wehmut.