Der amerikanische Anthropologe und Occupy-Vordenker David Graeber spricht über die gegenwärtigen Sozialproteste in Frankreich und erklärt, warum eine Kritik der Bürokratie notwendig ist.

Stuttgart - Der in London lehrende Anthropologe David Graeber ist 2011 einem weltweiten Publikum bekannt geworden, als er eine Studie über Schulden veröffentlichte und damit in einer Zeit staatlicher wie privater Haushaltskrisen einen Nerv traf. Der 55-jährige Amerikaner gilt zudem als Vordenker der Occupy-Bewegung. Am vergangenen Freitag stellte Graeber in Stuttgart sein neues Buch „Bürokratie – Die Utopie der Regeln“ in Stuttgart vor.

 
Herr Graeber, wann wollen Sie eigentlich nach Paris aufbrechen?
Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, direkt den Zug von Stuttgart nach Paris zu nehmen. Aber da ich dummerweise diese Tasche mit Dreckwäsche bei mir habe, werde ich zuerst nach London zurückfliegen und dann nach Paris fahren.
Sie werden also die Aktivisten unterstützen, die dort auf der Place de la République gegen die geplante Arbeitsrechtsreform demonstrieren?
Oja! Freunde von mir aus New York, die an Occupy beteiligt waren, sind bereits dort, um zu helfen.
Glauben Sie denn, es könnte von Paris aus eine neue Occupy-Bewegung angestoßen werden?
Nun, wenn Sie sich anschauen, was seit 2011 geschehen ist, dann ist bei der Frage, was Leute unter einer demokratischen Bewegung verstehen, bereits ein fundamentaler Wandel zu beobachten. Es gab die Gezi-Park-Proteste in der Türkei, aber Ähnliches auch in Brasilien, Bosnien oder auch Hongkong. Das Entscheidende an all diesen Bewegungen ist, dass Leute nicht mehr über die bestehenden Institutionen versuchen, die Staatsgewalt zu übernehmen, sondern vielmehr neue demokratische Räume außerhalb bestehender staatlicher Strukturen schaffen. Das scheint mir doch ein permanenter Wandel zu sein.
Und das ist Ihrer Meinung nach ein weltweites Phänomen?
Wenn ich mich recht entsinne, war es der Sozialwissenschaftler Immanuel Wallerstein, der einmal gesagt hat, dass alle wirklichen Revolutionen global sind und sich dadurch auszeichnen, dass sie überall den politischen Common-Sense verändern. Schon bei der Französischen Revolution war das so: Bei dieser handelte es sich zwar um ein lokales Ereignis, gleichzeitig aber hat diese Revolution die Annahmen darüber, was das Wesen der Politik ausmacht, weltweit verändert.
Was halten Sie von den Entwicklungen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, wo linke Sozialdemokraten wie Jeremy Corbyn und Bernie Sanders in den vergangenen Monaten einen kaum für möglich gehaltenen Aufstieg erfahren haben?
Denken Sie an Länder wie Spanien und Griechenland, wo es große Bewegungen gab, deren Forderungen später Eingang in den politischen Prozess fanden. Ähnliches scheint bei Sanders und Corbyn der Fall zu sein. Die große Herausforderung besteht darin, eine Synergie zu schaffen zwischen den Leuten auf der Straße und denjenigen, die innerhalb des Systems operieren.
In Deutschland befinden sich dagegen Rechtspopulisten im Aufwind. Wie beurteilen Sie die Lage hier?
Offensichtlich ist es so, dass es in Deutschland so jemanden wie Sanders, der eine starke Alternative darstellen würde, nicht gibt – zumindest im Moment nicht. Aber solche Sachen entstehen plötzlich. Vor drei Wochen hätte wohl auch keiner gedacht, dass sich in Frankreich eine solche Bewegung entwickeln würde, wie wir sie gerade beobachten.
In ihrem neuen Buch entwickeln Sie eine Kritik der Bürokratie. Warum ist eine solche Kritik wichtig?
Ich denke einer der Gründe, warum Rechtsparteien einen Vorteil aus der bestehenden Unzufriedenheit ziehen können, liegt darin, dass sie über eine Kritik der Bürokratie verfügen. Dabei mag es sich um eine sehr schlechte Kritik handeln, aber zumindest gibt es eine. Die Linke ist dagegen in der unangenehmen Position, bürokratische Systeme verteidigen zu müssen, die weder sie noch sonst jemand wirklich mag. Wir haben uns an die Überzeugung gewöhnt, dass allein staatliche Bürokratien soziale Gerechtigkeit gewährleisten können, was aber nicht der Fall ist.
Warum nicht?
Nun, die Ironie besteht darin, dass die heutige rechte Bürokratie-Kritik – grob gesprochen – der linken Bürokratie-Kritik der sechziger Jahre entspricht. Bloß leben wir heute in einer gänzlich anderen historischen Situation. Vor einem halben Jahrhundert konnte man noch sagen, dass man mit der Verschmelzung von unternehmerischer und staatlicher Macht konfrontiert ist. Heute sind wir dagegen damit konfrontiert, dass Unternehmensbürokratien Allianzen eingehen mit dem Finanzsektor, der selbst wiederum bürokratische Formen angenommen hat. Deswegen hat man es heute mit einer ganz anderen herrschenden Klasse zu tun, und einer ganz anderen Art, Profite abzuschöpfen.
Sie selbst beschreiben sich als Anarchisten...
...ja, das tue ich, auch wenn ich mir manchmal wünsche, damit erst gar nicht angegangen zu haben, weil mich die Leute jetzt immer danach fragen (lacht).
Und was antworten Sie diesen Leuten dann, wenn die sagen, dass der Anarchismus vielleicht eine schöne Idee ist, aber leider unrealistisch und naiv?
Mein Vater hat im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft und in Barcelona gelebt, als diese Stadt gemäß anarchistischer Prinzipien verwaltet wurde – und das hat funktioniert. Es ist schlicht nicht wahr, dass der Anarchismus notwendig Chaos produziert. Wir sollten uns vielleicht eher fragen, was es bedeutet, in Regimes zu leben, in denen man permanent von staatlicher Gewalt bedroht wird, wenn man irgendwelche Regeln missachtet.

Das Gespräch führte Daniel Hackbarth.