Zwölf Monate Streik, 11 000 Verhaftete, 10 Tote: von 1984 bis 1985 tobt in England der Kampf der Bergleute gegen die Thatcher-Politik. David Peace liefert dazu einen atemberaubenden Doku-Politthriller.

Manteldesk: Thomas Schwarz (hsw)

Stuttgart - 1984: George Orwells düstere Zukunftsvision vom totalen Überwachungsstaat schien beim erreichen des den Romantitel bildenden Datums vor 30 Jahren doch nicht so schnell Realität geworden zu sein, wie der englische Schriftsteller wohl angenommen hatte. Dafür wurde Orwells Heimat in jenem Jahr auf andere Weise heimgesucht. Eine radikale Revolution von oben herab krempelte Mitte der 80er-Jahre Großbritannien um und hat Auswirkungen bis heute – nicht nur national, sondern auch international. Durch die Deregulierungspolitik der Thatcher-Regierung wurden unter anderem die englischen Banken entfesselt, um den Finanzstandort London attraktiv zu machen. Der hemmungslose Raubtier-Kapitalismus, der in den Jahren darauf einsetzte, führte schließlich zum Bankenkollaps der jüngsten Zeit.

 

Unmittelbar und mit brutaler Härte traf Margaret Thatchers Reformpolitik 1984 jedoch die Bergarbeiter in Mittel- und Nordengland. Unrentable staatliche Minen sollten geschlossen, der Rest privatisiert werden. Die Bergleute traten in Streik. Zwölf Monate, von 1984 bis 1985, dauerte der Arbeitskampf. Den Gewerkschaften ging schließlich das Geld aus, die Schließungen wurden durchgesetzt und ein großer Teil der betroffenen Arbeiter fand sich in der Arbeitslosigkeit wieder. Zwölf Monate also, in denen eine ganze Gesellschaft ein anderes Gesicht bekam, um bis heute grundlegend verändert zu bleiben.

Ein Thriller in Schwarzweiß fürs Kopfkino

In seinem Roman „GB84“ schildert David Peace diese zwölf Monate: schnörkellos, rasant, ohne Phrasen oder störendes Pathos, wie ein spannender Dokumentarfilm für’s Kopfkino – und zwar in schwarz-weiß. Denn irgendwie kann man sich beim Lesen keine Farben vorstellen. Zu finster und deprimierend sind das Thema und die Gewissheit, wie die Geschichte ausgehen wird. „GB84“ ist auch ein Nachruf auf die Solidarität in einer Gesellschaft, die außer den unbegrenzten Möglichkeiten des Stärkeren auch noch die Rücksicht auf den Schwächeren kannte.

Den meisten wurde die Radikalität der Ereignisse einst gar nicht bewusst, weder im In- noch im Ausland. So ging es auch dem damals 17 Jahre alten David Peace, wie der Schriftsteller im Gespräch mit der Stuttgarter Zeitung verriet. „Durch die Gespräche mit ehemaligen Streikenden und deren Familien begriff ich erst, wie sehr sie gelitten hatten“, sagt Peace, obwohl er 1984 den Streik in seiner Heimat Yorkshire hautnah miterlebt hatte. Nach dem aufregenden Anfang des Arbeitskampfes wurde dieser nicht nur dem Teenager Peace im Laufe der Zeit langweilig. Das Interesse der Öffentlichkeit an einer Sache schwindet meist, wenn die sich in die Länge zieht. Und wenn die Medien die nächste Sau durchs Dorf treiben, ist das Neue eben interessanter. So auch im Fall der englischen Bergarbeiter.

Nur die Hybris eint die Protagonisten beider Lager

Mehrere Protagonisten aus den miteinander ringenden Lagern lässt Peace in seinem Roman agieren. Auf der einen Seite die Gewerkschafter, die unnachgiebig auf ihren Positionen beharren, mit der Gewissheit, dass englische Gewerkschaften bis dahin als schier allmächtig galten und selbst absurdeste Forderungen durchsetzen konnten. Auf der anderen Seite das Lager der beinharten Premierministerin, die ihre radikal marktliberalen Interessen durchsetzen will, koste es was es wolle und den Kampf mit den ihr verhassten Gewerkschaften geradezu sucht.

Jedes Mittel ist dabei recht, auch miese Tricks. Nur eines eint die Anführer beider Seiten: die Hybris, die allein selig machende Lösung für sich zu beanspruchen. So fahren beide Kontrahenten blindlings auf die Wand zu, die einen werden bereits bald dagegen prallen, die anderen rund 30 Jahre später. In beiden Fällen sind Menschen die Leidtragenden, über deren Köpfe hinweg entschieden wird.

Kein Politthriller im üblichen Sinn

Im Roman agieren sowohl reale Personen, die damals im Streik maßgebliche Rollen spielten, wie fiktive Figuren, die jedoch real gezeichnet sind. Fakten und Fiktion werden so vermischt, dass man sie nicht mehr auseinander halten kann. Dem Handlungsstrang der großen Politereignisse setzt Peace die Schilderung der Geschehnisse aus Sicht zweier Streikender entgegen, Martin und Peter genannt.

Dieser Teil, der auch optisch vom Rest der Geschichte getrennt ist, läuft als weitere Erzählebene nahezu chronologisch wie ein Streiktagebuch mit. Für ältere Augen ist die kleine Schriftgröße zwar etwas gewöhnungsbedürftig, dürfte aber dem Umstand geschuldet sein, dass ein englischer Text im Gegensatz zu seiner deutschen Übersetzung um einiges kürzer ist. Auch muss man sich erst daran gewöhnen, dass dieser Erzählstrang oft mitten im Satz unterbrochen und erst ein paar Seiten weiter fortgesetzt wird.

10 Tote, 11 000 Verhaftete

David Peace hat keinen Politthriller im üblichen Sinn geschrieben, auch wenn der Roman Elemente eines solchen besitzt. Etwa den Geheimdienstler, der sich in die Reihen der Streikenden mischt, oder den Handlanger der Premierministerin, der mit seinem Chauffeur von einem Schwerpunkt des Streiks zum nächsten hetzt. Die eigentliche Spannung bezieht das Buch aus den Umständen des gesellschaftlichen Umbruchs, den Peace anhand des Schicksals seiner Akteure erzählt. Und diese Umstände sind drastisch: in den zwölf Monaten des Streiks wurden mehr als 11 000 Streikende verhaftet und zehn Personen während gewalttätiger Auseinandersetzungen getötet.

Als die Regierung die Flying Pickets verbietet, Streikposten, die nach Bedarf von Werkstor zu Werkstor ziehen, eskaliert die Situation erstmals. Die Polizei hält die Busse mit den Flying Pickets auf, diese aber gehen rasch entschlossen querfeldein zu ihren Zielen. Dort kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen, der Polizei und den Scabs, wie die Streikbrecher verächtlich genannt werden.

Das Schlusswort gehört einem Bergarbeiter

„GB 1984“ ist auch eine Erinnerungsreise in die 80er, die Geschichte ist gespickt mit Songtiteln, Ereignissen und Namen, die das Jahrzehnt für immer geprägt haben, allen voran Margaret „Maggie“ Thatcher. Das Buch macht Lust, wieder jene britischen Tragikomödien wie „Ganz oder gar nicht“ auf DVD zu sehen, welche die bis ins neue Jahrtausend reichenden Folgen des „Thatcherism“ thematisieren. In „Brassed off“ etwa schildert Mark Herman den Widerstand einer nordenglischen Stadt gegen die Schließung der örtlichen Zeche.

Die Frauen der Bergleute, die trotz der durch den Streik verursachten Krisen in ihren Familien vor dem Werkstor demonstrierend ausharren, trifft man in ähnlicher Weise in „GB 1984“ an. „No going back! – Kein Zurückweichen“ sangen die Frauen während des Streiks von 1984, der trotz ihrer Entschlossenheit scheiterte. Eine völlig neue Ära begann im Jahr 1985. Das Schlusswort in GB 84 gehört deshalb dem Kumpel Martin: „Erwacht! Erwacht! Dies ist England, euer England! Im Jahre Null.“

David Peace: GB84. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg, Liebeskind, 544 Seiten, 24,80 Euro