25 Jahre nach der Wiedervereinigung sind Gregror Gysi und Friedrich Schorlemmer wieder gemeinsam aufgetreten: „Was bleiben wird“, lautet der Titel ihres 300 Seiten starken Buches, das das Protokoll eines zweitägigen Dialogs ist.

Lokales: Sybille Neth (sne)

Stuttgart - Zwei DDR-Biografien, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Da der Pfarrerssohn, der aufgrund seiner Herkunft am Studium gehindert wurde und schließlich doch Theologe wurde. Dort der privilegierte Sohn des Ministers für Kultur der DDR, der Rechtsanwalt wurde. Die Wege des Pfarrers Friedrich Schorlemmer und des Juristen Gregor Gysi kreuzten sich vor dem Fall der Mauer. „Ich war in der Kirche. Er war in der Partei“, fasst Schorlemmer die unterschiedlichen Positionen zusammen. „Aber es gab in der Partei auch Menschen, die ihren Kopf zum Denken benutzten. So fiel mir Gysi auf.“

 

Als Redner auf der einzigen legalen Großdemonstration in Ostberlin am 4. November 1989 machten sie sich für eine demokratisch-sozialistische DDR stark. 25 Jahre nach der Wiedervereinigung treten die beiden wortgewaltigen Männer wieder gemeinsam auf: „Was bleiben wird“, lautet der Titel ihres 300 Seiten starken Buches, das im Aufbau Verlag erschien und das Protokoll eines zweitägigen Dialogs anlässlich von Schorlemmers 70. Geburtstag über Vergangenheit, Zukunft und Utopien ist. Wolfgang Niess hatte in seiner Reihe „Autor im Gespräch“ den Vorsitzenden der Linkspartei Gysi und den Theologen Schorlemmer (SPD) in der ausverkauften Volkshochschule zu einer launig-gehaltvollen Rückschau auf DDR-und Wendezeiten zu Gast. „Sollte denn überhaupt etwas von ihr bleiben – außer dem Ampelmännchen und dem Pfeil für Rechtsabbieger“, provozierte SWR-Literaturpapst Niess.

Gysi: Bundesregierung war klein kariert

Gysi konterte in Sekundenschnelle: Die flächendeckende Versorgung mit Kindertagesstätten, die Berufsausbildung mit Abitur, die Polikliniken – sie wären es Wert gewesen, im Westen übernommen zu werden. Das hätte das Selbstwertgefühl der Ossis gestärkt und die Wessis hätten so ein „Vereinigungsgefühl“ bekommen. „Aber die Bundesregierung war klein kariert“, kritisiert er. „Was ist so schlimm daran zu sagen, in diesen Punkten waren sie im Osten weiter als wir?“ wirft er den Wessis vor und Schorlemmer betonte, dass der Wunsch nach Freiheit und Demokratie die treibende Kraft der friedlichen Revolution gewesen war: „Wir wollten das D der Demokratie statt das D der D-Mark“, formulierte er, bekannte sich aber gleichzeitig dazu, froh zu sein, dass er in der Bundesrepublik lebe und romantisierte andererseits über den Reiz des Mangels in der DDR. „Der hat auch sein Glück – wer lange vieles entbehrt, freut sich mehr, wenn er etwas bekommt.“ Großen Beifall erhielt der evangelische Theologe für seine Kritik an der hiesigen Wegwerfgesellschaft – „auch an Leben in Form von Fleisch“. Gysi lobte Schorlemmer als unbestechlichen Zeitgenossen, der heute weder einen schönfärberischen, noch einen dämonisierenden Blick auf die DDR hat: „Und im Osten und im Westen bei den Regierenden unbeliebt zu sein, das muss man erst einmal hinbekommen.“

Schorlemmer: die Leute wurden erniedrigt

Schorlemmer und seine fünf Geschwister hatten stets unter Repressalien zu leiden, weil ihr Vater Pfarrer war. Deshalb war er es auch, der auf den politischen Strafvollzug der DDR zu sprechen kam: „Die Leute wurden erniedrigt und sie ließen es zu“, sagte er und verwies auf die Lücken im System – manches war doch möglich. „Andererseits gibt es auch im richtigen System falsches Leben“ – sinnierte der Pfarrer mit Blick auf die Bundesrepublik.

Heute grenzt es für ihn und für Gysi an ein Wunder, dass während der Revolutionszeit kein einziger Schuss fiel. Und der Vorsitzende der Linken erinnert sich, dass die Demonstration am 4. November die erste war, die live im DDR-Fernsehen übertragen wurde: „Das war absolut ungewöhnlich, denn sie wussten ja nicht, was die Leute sagen würden.“