Karl Heinz und Magdalena Schäfer – die beiden riskierten für ihre Liebe ihr Leben. Foto: privat/KI/Midjourney/Montage: Ruckaberle
Es sind die 1960er, die deutsch-deutsche Mauer verhindert Ehen und Familiengründungen. Magdalena und Karl Heinz wollen das nicht hinnehmen. Für ihre Liebe riskieren sie alles.
Ein kleines Einfamilienhaus in Hechingen im Zollernalbkreis, die Herbstsonne scheint, in der Ferne thront die Burg Hohenzollern auf einem Hügel wie ein Bewacher dieser prächtigen schwäbischen Landschaft. Karl Heinz Schäfer öffnet die Tür des kleinen Häusles hinter den Supermarktparkplätzen. Der pensionierte Lehrer und Diakon und seine Frau Magdalena leben hier seit Jahrzehnten. Ein Kaminofen im Flur hält sich für die kalte Jahreszeit bereit, Herbstdeko mit Kürbis und bunten Blättern liegt auf der Vitrine, katholische Figürchen stehen auf braunen Schränken. Es ist ein bürgerliches Zuhause.
Wer die beiden Rentner erlebt, kommt nicht auf die Idee, ihre Liebe hätte in jungen Jahren um ein Haar tödlich enden können. Man ahnt nicht, dass Karl Heinz Magdalena aus der DDR befreit hat mit einem der wildesten, ungewöhnlichsten Fluchtmanöver überhaupt. Zeit seines Lebens hat das Paar darüber kaum gesprochen. Die Mauer trennte Liebende, verhinderte Ehen und Familiengründung. Das wollten Magdalena und Karl Heinz nicht hinnehmen. Sie waren jung und wild entschlossen zur Freiheit.
Zwischen West und Ost beginnt eine Brieffreundschaft
Karl Heinz, der 1941 geboren wurde, wächst nach dem Krieg behütet in Hechingen als Sohn eines Elektromeisters auf, in Sasbachwalden besucht er die katholische Internatsschule. Magdalena, Jahrgang 1938, wird noch in Niederschlesien geboren, flieht am Ende des Krieges als Kind vor der Roten Armee bis nach Dresden, wo ihre Familie von der Front eingeholt wird. Von den Hügeln über der Stadt betrachtet sie an einem Abend im Februar 1945, wie Dresden in einem riesigen Feuerball aufgeht. An der Grenze zwischen Sachsen und Brandenburg, in einer kleinen Stadt namens Ortrand, wird Magdalenas Familie sesshaft. Dort wächst sie auf, lernt den Beruf der Zahntechnikerin.
In Sasbachwalden kommt Ende der 50er ein Priester aus der Sowjetzone in die Internatsklasse von Karl Heinz. Der Priester schlägt Brieffreundschaften mit Jugendlichen aus dem Osten vor, verteilt Adressen. Zuerst schreibt Karl Heinz einem Jungen, der verliert schnell die Lust. Die Mutter des Jungen gibt den Kontakt an eine Bekannte, es ist Magdalenas Mutter: Will deine Tochter dem Brieffreund im Westen schreiben?
Was die Jugendlichen einander damals schicken, wissen die Schäfers heute nicht mehr. Belangloses, sagen sie. Die Briefe aus den 50er Jahren sind verloren gegangen. Doch der Kontakt hält. Und als bei Karl Heinz 1960 eine Abiturfahrt nach Berlin ansteht, vereinbart er ein Treffen mit Magdalena. Reisen kann bis 1961 jeder, auch Magdalena aus dem Osten. Bei der Gedächtniskirche in West-Berlin verabreden sich die Brieffreunde. Nicht gerade übersichtlich ist es rund um die Kirche. Doch sie finden einander, sind sich sympathisch. Nicht so, dass man einander direkt um den Hals fällt. Aber da ist was.
Ein Bild der beiden, aufgenommen am Bodensee Ende der 60er. Foto: privat
Im Sommer 1961 ist Magdalena zum ersten Mal in Hechingen, besucht Karl Heinz in seinem Elternhaus. Am 14. August soll sie zurück fliegen nach Ost-Berlin. Doch in der Nacht vom 12. auf den 13. August geschieht etwas bis dahin Unvorstellbares. Die DDR baut Stachelzäune auf, beginnt mit dem Mauerbau, die Grenzer machen die Schotten dicht. Und nun? Magdalena fliegt trotzdem. Niemand ahnt, wie rigoros die DDR ihre Bürger bald verängstigen und einsperren würde.
Sie wollen zusammen leben – doch wie und wo sollte das möglich werden?
Karl Heinz kommt im Westen zur Bundeswehr, sogar mit Wehrpflichtverlängerung wegen des Mauerbaus. Aus seiner Kaserne in Pfullendorf schreibt er weiter seiner Freundin im Osten. Und er besucht sie auch. Einreisen kann er als Westdeutscher problemlos. Karl Heinz gefällt es bei Magdalenas Familie in Ortrand. Als ihre Mutter Pilzsammeln geht und ein wunderbares Pilzgericht kocht, ist Karl Heinz begeistert.
Magdalena und er wissen nun nach und nach, dass sie zusammen sein wollen. Ein Leben aufbauen gemeinsam, wäre das vermessen? Doch wie und wo sollen sie leben – ein Bauernmädchen aus Schlesien und ein Handwerksjunge aus Hechingen?
Bei einem der Besuche in Ortrand kommt ein Parteimensch in Magdalenas Elternhaus, will Karl Heinz von den Vorzügen des Kommunismus überzeugen. Der studiert damals schon in Freiburg Geschichte und Politik. Und hat damit keine Chance auf eine Stelle in der DDR, er ist schließlich beim Klassenfeind ausgebildet. Es scheint ausweglos.
Karl Heinz hört von einer spektakulären Fluchtmethode
Wieder zu Hause im Westen will Karl Heinz nicht aufgeben. Er beginnt, sich über Fluchtmöglichkeiten aus der DDR zu informieren: Was wurde schon gewagt, was ist gelungen? Da gibt es die Geschichte mit dem Tunnel in Berlin. Und es gibt die, die über die Ostsee schwimmen. Im Auto verstecken sich manche, doch die Fahrzeuge werden durchsucht. All das erscheint Karl Heinz zu riskant. Dafür müsste er andere einweihen, das will er nicht. Was würde mit Magdalenas Verwandten passieren, wenn sie flieht?
1963 hört Karl Heinz von einer spektakulären Fluchtmethode. Er erfährt, wie ein Österreicher in Berlin mit einem flachen Auto, einem Austin-Healey Sprite, unter dem Schlagbaum durchrast. Und erstmals denkt er: Das wäre auch was für uns. Karl Heinz fängt sofort an zu planen, besucht wieder Magdalena in Ortrand. Telefonieren kann man zu den Plänen nicht, alles könnte abgehört werden. Karl Heinz weiht nur eine Mitstudentin ein, Magdalena sagt es bloß einer Freundin. Den Eltern erzählen beide nichts. Karl Heinz fährt 1964 in die Tschechoslowakei, erkundet die Grenze zu Österreich. In Berlin ist sie längst zu gut bewacht. Am Grenzübergang bei Bratislava wird er fündig, unter dem Schlagbaum ist kein Netz gespannt, kaum Wachpersonal. Eines Nachts fährt Karl Heinz zum Schlagbaum, misst die Höhe aus. Sie würden mehrere Schranken überwinden müssen.
Mit einem Austin-Healey Sprite hat Karl Heinz Schäfer seine Geliebte aus der DDR befreit. Foto: privat
Zurück im Westen schaut sich Karl Heinz nach einem Auto um. Er entdeckt in der Paulinengarage in Stuttgart einen Austin-Healey Sprite, genau so einen, wie er sucht. Bei dem Wagen kann er die Windschutzscheibe abschrauben. Das wird noch wichtig.
Im September fährt Karl Heinz nach Leipzig zur Messe, Magdalena hat eine Tante dort. Bei diesem Treffen wird der Fluchtplan finalisiert. Magdalena beantragt über die Gewerkschaft Urlaub in der Tschechoslowakei. Sie bekommt die Zusage für Chopok in der Niederen Tatra, heutige Slowakei.
Sie wissen, das Risiko ihres Fluchtplans ist sehr hoch
Die Planung beginnt. Karl Heinz baut drei Stahlplatten in das neue Auto. Er ist nicht blauäugig, weiß, wie riskant es ist. Um Leben und Tod geht es, wenn geschossen wird. Magdalena und Karl Heinz schreiben Abschiedsbriefe an ihre Eltern. Man weiß nie. Das Risiko ist hoch. Die Nerven liegen blank.
Karl Heinz fährt zur Madonna nach Colmar, der Schongauer-Madonna. Er sitzt lange in der Kirche vor dem Bild, als er plötzlich das Gefühl hat, die Madonna spreche zu ihm und sage: Du kannst es wagen, es wird gelingen. Nach diesem Erlebnis ist Karl Heinz vollkommen ruhig. Er hat das Gefühl, eine göttliche Kraft sei um ihn und seine Liebste, ein Schutzengel oder Heiliger Geist.
Die Madonna in Colmar Foto: privat
Am 24. September 1964 fährt Karl Heinz mit dem Wagen los nach Wien, überquert kurz darauf die Grenze ohne Schwierigkeiten. Am Südhang des Berges von Chopok mietet er sich ein Hotelzimmer, fährt mit der Seilbahn auf den Berg und auf der anderen Seite wieder hinunter. Magdalena ist mit ihrer Gruppe unterwegs, er hinterlässt ihr einen Zettel: Komme morgen wieder.
Am nächsten Tag reist er wieder mit dem Sessellift rauf und runter. Magdalena hat sich von der Gruppe abgemeldet, es ist ein Sonntag. Der Entschluss ist gefasst: Sie wollen sofort abreisen. Karl Heinz holt das Auto, dieses Mal fährt er nicht über den Berg, sondern um ihn herum.
Magdalena kommt Karl Heinz schon auf der Straße entgegen. Sie hat nur einen Stoffbeutel mit wenigen Sachen bei sich. Das Wetter ist gut. Ohne Pause, kaum miteinander sprechend, fährt das Paar rastlos in Richtung Grenze. Magdalena weiß, jetzt steht die zweite Flucht ihres Lebens bevor. Es ist nicht wie zu Kriegstagen damals als Kind. Doch auch jetzt ist Krieg, eiskalter Krieg, und sie flieht wieder um ihr Leben. Dafür muss sie ganz still bleiben und sich verstecken.
An einer unscheinbaren Stelle im Wald hält Karl Heinz an, in der Dämmerung montiert er die Windschutzscheibe ab. Magdalena legt sich auf den Rücksitz. Drei Schlagbäume erwarten das Paar. Der, der schon einen Kilometer vor der Grenze steht, wird geöffnet, sobald sich ein West-Fahrzeug nähert. Dann geht es weiter. So weit verläuft alles nach Plan. Die Grenze ist hell erleuchtet.
Als sie die Grenze überwunden haben, scheint die Zeit still zu stehen
Karl Heinz wartet in einiger Entfernung, damit kein Fahrzeug vor ihm ist. Dann fährt er langsam auf den Schlagbaum zu, niemand ist zu sehen. Der erste Schlagbaum ist offen. Und dann ist es so weit: Karl Heinz gibt Gas und prescht unter dem zweiten durch. Er sieht aus dem Augenwinkel, wie ein Grenzposten aufspringt, sich das Schnellfeuergewehr von der Schulter reißt. Dann die böse Überraschung: Auch der österreichische Schlagbaum ist unten. Bei den Testfahrten war das nie so gewesen. Kurz entschlossen braust Karl Heinz auch da untendurch, fährt noch 500 Meter weiter. Dann hält er an.
Die Zeit scheint still zu stehen. Im Hintergrund hört man die Tschechen rufen. Karl Heinz schaut zum Rücksitz. Magdalena geht es gut. Er steigt aus dem Wagen und läuft zum österreichischen Grenzposten zurück. Er will sich entschuldigen, sich erklären.
Die folgenden Stunden und Tage erscheinen dem Paar wie ein Traum. In Wien bekommt Magdalena einen provisorischen Ausweis. Sie schreibt Briefe an die Familie. Magdalenas Verwandte werden auch in den folgenden Jahren nicht belangt. Im Februar 1968 heiraten Magdalena und Karl Heinz, ziehen nach Hechingen. Das Paar bekommt drei Kinder, sieben Enkel. Die Schongauer-Madonna sollte also Recht behalten. Karl Heinz sagt: „Wir hatten das Gefühl, zusammen zu gehören.“ Magdalena drückt es so aus: „Man ist halt seinen Weg gegangen.“
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