Vor 25 Jahren wurde Manuela Polaszczyk von der BRD freigekauft. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch kam sie ins Gefängnis Hoheneck.

Reportage: Robin Szuttor (szu)
Karlsruhe - Der Morgen dämmert über dem einsamen Strand von Boltenhagen. Nur der salzige Ostseewind, knisternde Dünen und Manuela Polaszczyk, die ihre Sachen in einen Strandkorb legt. Die schwachen Lichter am Horizont gehören zur Lübecker Bucht. Da will sie hin. Fast vierzig Kilometer sind es bis zum anderen Ufer. Ein irrwitziges Vorhaben. Dass selbst eine Leistungsschwimmerin wie sie bei diesem Wellengang ohne Chance sein dürfte, daran verschwendet sie in dem Moment keinen Gedanken. Vielleicht wird sie ja von einer Fähre aufgenommen. Davon hat sie schon gehört. Sie schwimmt los.

Bei der Flucht erwischt


Nicht lange, dann erscheint das Patrouillenboot. Sie schwimmt weiter. Kein Zweifel, es steuert genau auf sie zu. Sie macht kehrt. Das Boot kommt näher. Als sie schon fast wieder an Land ist, sieht sie am Strand ein paar uniformierte Männer, die im Laufschritt auf sie zukommen. Die 20-Jährige wirft sich in den Strandkorb. Glaubt, den DDR-Grenzern eine Urlauberin vorspielen zu können. Man führt sie sofort ab. "Wenn du versuchst abzuhauen, wird geschossen", sagt einer. Alles aus.

26 Jahre später. Manuela Polaszczyk lebt jetzt in einer Kleinstadt bei Karlsruhe. Von ihrer gelb gepolsterten Wohnzimmer-Sitzgruppe aus blickt sie auf die Lärmschutzmauer der Bundesstraße. Ein Strauß gelber Narzissen auf dem Kiefernholztisch, flötende Keramikengel in den Regalen, Spitzweg-Bilder an der Wand: Die freundliche Zweizimmerwohnung lässt einen nichts von den Alpträumen ahnen, die sie hier immer wieder einholen.

Schläge und Erniedrigungen


An jenem Julimorgen 84 wird der Republikflüchtling Manuela Polaszczyk auf das Polizeirevier von Boltenhagen gebracht. Sie sagt nichts. "Dir wird deine Sturheit vergehen", sagt der Beamte. Man verfrachtet sie in die Stasizentrale in Grevesmühlen, dann zum Haftrichter. Sie bleibt bei ihrer Version, sie habe nur ein bisschen im Meer schwimmen wollen. Auch in Rostock und Cottbus muss sie stundenlange Verhöre über sich ergehen lassen. Mal sind die Beamten die Freundlichkeit in Person, mal brüllen sie nur. Als sie schließlich im Kreisgericht Lübbenau auf ihr Urteil wartet, hat sie Schläge, peinliche Untersuchungen und andere Erniedrigungen hinter sich.

Der Richter schickt sie zwei Jahre und vier Monate hinter Gitter. Eigentlich habe sie eine noch längere Strafe verdient, meint er. Etwas Unbeugsameres sei ihm noch nie begegnet. Bei der Ankunft am Bahnhof wird sie mit zwei anderen Frauen zusammengekettet und durch die Stadt zum Gefängnis geführt. Endstation Hoheneck.

Die Geschichte der Burg Hoheneck im Erzgebirge reicht zurück ins 13.Jahrhundert. 1861 wurde hier die königlich-sächsische Weiberzuchtanstalt eingerichtet. Schon in der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und unter den Nazis saßen hier neben gewöhnlichen Kriminellen auch Oppositionelle ein. 1951 wurde Hoheneck wieder zum reinen Frauengefängnis. Seit 1977 konnten politische Häftlinge von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft werden. Mehr als 3,5 Milliarden Mark flossen so in die DDR-Staatskasse.

Die DDR hat sie als Gefängnis empfunden


Nach ihrer gescheiterten Flucht ist Manuela Polaszczyk auch eine "Politische", sitzt in Zellen zusammen mit Mörderinnen und anderen Schwerstkriminellen. In intellektuellen oder kirchlichen Widerstandszirkeln war sie nie, sie beschäftigte sich nie groß mit politischen Theorien. Sie wollte einfach nur weg. Wie ihr Vater.

Der setzt sie als Zwölfjährige auf den Rücksitz seines Mopeds und fährt mit ihr nach Berlin, um in der westdeutschen Botschaft Asyl zu beantragen. Doch sie werden vorher abgefangen. Der Vater landet für einige Zeit im Gefängnis. Und in Manuela wächst der brennende Wunsch abzuhauen. Abgesehen von einem dilettantischen Fluchtversuch mit 15 bleibt es vorerst bei dem Wunsch.

Februar 1984, Manuela Polaszczyks Vater darf für vier Tage in den Westen. Jeder wundert sich, warum ein Staatsfeind wie er in den Genuss solcher Privilegien kommt. Er kehrt nicht zurück. Seiner Tochter schreibt er, sie solle einen Ausreiseantrag auf Familienzusammenführung stellen. Von nun an ist sie voll im Visier der Stasi. Es folgen Hausdurchsuchungen, Visiten im Betrieb, Befragungen, Schikanen. Manuela Polaszczyk hält nichts mehr in der DDR, die sie nur noch als Gefängnis empfinden kann.