Schauspieler Till Wonka und Dramaturg Christian Holtzhauer haben auf der Bühne der Kulturgemeinschaft über nackte Haut auf der Bühne diskutiert.

Stuttgart - Der wird doch nicht!? Und dann tut es der da vorne auf der Bühne eben doch, entledigt sich des letzten Stücks Textil, steht da in seiner ganzen Blöße, so dass peinlich berührte Zuschauer scharf den Atem einziehen, sich in ihre Sitze krümmen oder türenknallend den Saal verlassen. Um solche Theatermomente geht es beim Gespräch im gut gefüllten Foyer der Kulturgemeinschaft, wobei der fragende Veranstaltungstitel „Wie viel Stoff braucht’s auf der Bühne, Herr Wonka?“ aus Sicht des Schauspielers schnell beantwortet ist. Wenn Till Wonka, Star des Stuttgarter Staatstheaters, nämlich von einer Rolle überzeugt ist und ein Regisseur wie Volker Lösch es so haben will, dann braucht es gar keinen Stoff mehr. Die Zuschauer würden „das schon eine halbe Stunde aushalten“, sagt der lässig in Jeans und Kapuzenpulli auf dem Podium hockende Wonka.

 

Aber ganz so einfach lässt sich die Moderatorin Adrienne Braun, die StZ-Redakteurin, die sich als Stellvertreterin des Publikums versteht, nicht abspeisen. Nach ihrem einführenden Streifzug durch die Geschichte der Nacktheit besteht sie darauf, dass die Situation auf der Bühne eine besondere ist, anders jedenfalls als jene in der Sauna oder im Park vor einer antiken Skulptur. Diese Körperentblößungen im Theater, daraus macht sie keinen Hehl, gehen ihr zu weit und sind ihr in jedem Sinn zu viel. „Was kann denn mit nacktem Körper ausgedrückt werden, was mit dem bekleideten nicht möglich ist?“, fragt sie Christian Holtzhauer. „Ein weites Feld!“, antwortet der schwarz gekleidete Staatstheater-Dramaturg. „Wir haben Zeit“, ermuntert ihn die Moderatorin. Und so legt Holtzhauer eloquent los.

Theater sei ein System zu interpretierender Zeichen, die Nacktheit in diesem System ein sehr wirksames und provozierendes, also „extrem aufgeladenes Zeichen“. Das könne genauso Inbegriff von Reinheit wie von Obszönität und Schmutz sein, sagt Holtzhauer. Nacktheit ohne eine weitere Idee lehnt er jedoch ab, sie dürfe nicht zur „leeren Geste“ verkommen. Aber gegen ein Theater, das als „Hort des Wahren, Guten, Schönen“ verstanden wird, wehre er sich ebenfalls, die Bühne sei ein öffentlicher Ort, sie müsse zeigen, was auf der Welt passiere, und „da gehört die Erniedrigung des Körpers dazu“! Dass die Vergewaltiger in Löschs „Dogville“-Inszenierung die Hosen heruntergelassen haben, sei der bösen Sache angemessen, als qualvollste Szene aber sei jene empfunden worden, in der einer der Männer auch noch auf sein Opfer uriniert. Überhaupt sei im Theater der nackte Körper allein „keine Zumutung“ mehr, das werde er erst durch seine Verbindung mit Sex, Gewalt, Krankheit und „Ausscheidungsprozessen“.

Es ist ein Unterschied zwischen Rolle und Privatperson

Dass Nacktheit auf der Bühne nur selten in Bettszenen vorgeführt werde, habe sie auch schon festgestellt, sagt Adrienne Braun, die für die Stuttgarter Zeitung auch Theaterkritiken schreibt. Sie will dann wissen, warum sich in Barbara-David Brüeschs aktueller „Emilia Galotti“-Inszenierung sogar die Titelheldin entblößen muss. Um ihre besondere Schutzlosigkeit zu zeigen, erklärt Holtzhauer, um sie als ein von zugeknöpften Anzugträgern umzingeltes „Stück Natur“ vorzuführen. Nacktheit sei ja auch „eine besondere Form von Kostüm“, sagt der Dramaturg. Trotzdem werde sie bei solchen Szenen aus der Handlung herausgeworfen, entgegnet Adrienne Braun, sie habe bei „Emilia Galotti“ nicht mehr Zeichen gesehen, sondern bloß noch die Blöße der Darstellerin: „Mein Gott, ist die dünn.“ Für sie dränge sich also „der echte Mensch“ zu sehr in den Vordergrund. „Mir ist das peinlich“, bekennt die Moderatorin, und, dem zustimmenden Brummen nach zu urteilen, spricht sie einem größeren Teil der Zuhörer aus der Seele.

Holtzhauer erkennt in dieser Reaktion jedoch eine Qualität, der Zuschauer werde zu einem Verhalten gezwungen, er werde „auf seine Rolle als Zuschauer aufmerksam gemacht“! Mit Bert Brecht gesprochen handle es sich um „epische Momente“. Zudem beharrt der Dramaturg auf dem Unterschied zwischen Rolle und Privatperson und spricht vom Schutzraum, den die Bühne biete. Auch Till Wonka meldet sich nach längerem Schweigen wieder zu Wort: „Ich bin auf der Bühne nicht Till Wonka!“ Im Übrigen mache er privat kein FKK, obwohl er aus dem Osten komme, gebe aber zu, dass er es durchaus als befreiend empfinde und auch genieße, nackt über die Bühne zu toben.

Im „Steckbrief“ seiner Agentur sind als Aktivitäten des 1982 geborenen Wonka die Spiel- und Sportarten „Parkour, Leichtathletik, Fechten, Basketball, Akrobatik und Jonglieren“ aufgelistet. Auch bei diesem Gespräch signalisieren seine bis zu den Ellenbogen hochgekrempelten Ärmel, dass er ein Mann der Tat ist, ein exzessiver Körperschauspieler, der auf dem Podium wie stillgelegt wirkt. Immerhin lässt er sich entlocken, dass er Schauspieler geworden ist, weil er da „bezahlt Regeln brechen darf“, und als er auf seine kriegerische Nacktrolle in Volker Löschs „Ilias“-Bearbeitung angesprochen wird, gerät er ins Schwärmen. Lösch habe ihm erklärt: „Du hast dann auch noch Blut, 130 Liter, wenn du willst. Wo kriegt man denn noch so eine Chance?“

Das Theater provoziere mit echten Körpern

„Ich muss aber nicht immer, da gibt’s ganz andere Kaliber!“, sagt Till Wonka über seine Nacktauftritte. Mehrmals fällt nun der Name des Berliner Schauspielers Lars Eidinger, wenn der „zum dritten Mal seinen Schniedel rausholt“, sagt Holtzhauer, denke er, „den kenn ich ja schon“! Auch der Regisseur Claus Peymann wird von den Stuttgarter Theaterleuten mit Seitenhieben bedacht, etwa wenn es um ältere Herren geht, die gern nackte jüngere Frauen auf der Bühne sehen. Dass diese Art von Ausbeutung, die etwa Christian Schwochows Film „Die Unsichtbare“ gerade im Kino vorführt, an diesem Abend kein großes Thema ist, hängt wohl mit dessen Besetzung zusammen. Jedenfalls dürfte nicht jeder auf der Bühne mit seiner Nacktheit so ungeniert umgehen wie Wonka.

Ein bisschen rührt Holtzhauer doch an dieses Thema, wenn er diese Nacktheit auch als Reaktion auf den perfekten Körper sieht, auf die Welt der Werbung. Das Theater provoziere mit dem echten, nicht per Fotoshop bearbeiteten Körper, so Holtzhauer, der sich dabei wohl auf Ulrike Traubs Buch „Theater der Nacktheit“ bezieht. Die Entblößung auf der Bühne sei notwendig, schreibt die Theaterwissenschaftlerin, weil sie, etwa in Jürgen Goschs „Macbeth“-Inszenierung von 2005, dem Schönheitskult die „durchschnittlichen Leiber mittleren Alters“ entgegensetze. Am Ende dieser Diskussion sind nicht alle, aber viele Argumente ausgetauscht, die Positionen jedoch haben sich kaum verändert. Er wolle im Theater einfach nicht zum Voyeur gemacht werden, sagt ein Zuhörer. Er dürfe ja direkt reagieren, etwa durch Buhrufe, sagt Holtzhauer. Es wird wohl alles so weitergehen wie bisher.