Zeigt der kompromisslose Rückzug von SPD-Chefin Andrea Nahles, dass es in den Volksparteien inzwischen wirklich geradezu brutal zugeht? Einige Politiker warnen auch vor wachsender Frauenfeindlichkeit.

Berlin - Als Kämpfer für Frauenrechte ist Olaf Scholz bisher nicht aufgefallen. Daher überrascht sein Befund, dass seine SPD beim Umgang mit Andrea Nahles als Parteichefin einen „ziemlichen frauenfeindlichen Anteil“ offenbart habe. Der Vizekanzler bemängelt, dass bei Frauen in Führungspositionen Verhaltensweisen kritisiert werden, die bei männlichen Chefs überhaupt nicht erwähnt würden. Er bezog sich dabei nicht nur auf den Umgang mit Nahles, sondern auch auf heftige Kritik an CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer.

 

Ist es nicht selbstverständlich, dass Frauen große Organisationen führen? Der Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt, SPD-Politiker Michael Roth, beklagte einen schlechten Stil gegenüber Nahles. „Der öffentliche Umgang mit Dir war schändlich. Einige in der SPD sollten sich schämen“, schrieb er beim Kurznachrichtendienst Twitter. „Da hat auch Frauenfeindlichkeit eine Rolle gespielt“, sagte Fraktionsvize Karl Lauterbach und stellte nicht nur den Genossen die Stilfrage: „Wir müssen darüber nachdenken, ob wir mit diesem Umgang tatsächlich Vorbild sein können.“

Kühnert schämt sich

Dem Befund der „Welt“-Journalistin Claudia Kade – „Die SPD ist die brutalste Partei Deutschlands“ – schließt sich auch Juso-Chef Kevin Kühnert an. Der scharfe Kritiker Nahles’ und dieser vierten großen Koalition mahnte auf Twitter einen besseren Umgang innerhalb der SPD an: „Alles beginnt mit einer einfachen Feststellung: Wer mit dem Versprechen nach Gerechtigkeit und Solidarität nun einen neuen Aufbruch wagen will, der darf nie, nie, nie wieder so miteinander umgehen, wie wir das in den letzten Wochen getan haben. Ich schäme mich dafür.“

Politik sei nicht nur ein wahnsinnig hartes Geschäft, „sondern ich weiß selber, dass es auch immer nochmal besondere Härten gibt, wenn man weiblich ist“, sagte Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock am Montag in Berlin. Sie habe großen Respekt vor der Konsequenz, mit der Nahles „das jetzt für sich abschließt“.

Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) sagte, man müsse jetzt einmal innehalten und sich fragen, ob man noch respektvoll und achtsam miteinander umgehe oder nicht. Ähnlich klar formulierte es der FDP-Vorsitzende Christian Lindner. Er twitterte, der Umgang mit Nahles sollte alle in Politik und Medien zum Nachdenken bringen. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch sagte ebenfalls, so brutal dürfe Politik nicht sein.

Todessehnsucht in der SPD?

Die letzte Folge im jüngsten Machtkampf der SPD ist gelaufen – und es bleiben nur Verlierer: Andrea Nahles, die SPD und der menschliche Umgang in der Politik. „Die Art und Weise, wie manche in den Tagen seit der für uns verlorenen Europawahl mit Andrea Nahles umgegangen sind, war inakzeptabel“, sagte der stellvertretende Bundesvorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel. In den internen, mehr noch aber in den öffentlichen Erklärungen um die Partei- und Fraktionsvorsitzende habe er „schmerzlich die wichtigsten Grundwerte der Sozialdemokratie vermisst: Respekt und Solidarität“.

Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter gibt es zahlreiche Bekundungen der Solidarität mit Nahles. Kolumnistin, Feministin und Buchautorin Sophie Paßmann schrieb dazu: „Ich habe die Befürchtung, die feministischen Solidaritätsbekundigungen mit Nahles kommen jetzt einen Ticken zu spät.“

Oder wie es der Politikwissenschaftler Rudolf Korte im ZDF-Morgenmagazin formulierte: Wer in der SPD Vorsitzender werden wolle, „muss schon ein bisschen Todessehnsucht entwickeln.“