Gibt es eine Verdrängung von weniger betuchten Einwohnern durch die Sanierung von Wohngebieten in Stuttgart? Im Gemeinderat gehen die Meinungen weit auseinander.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Was ist sie nun, diese Gentrifizierung? Ein schlimmer Prozess, bei dem Familien mit geringerem Einkommen durch Haushalte mit höherem aus der Stadt verdrängt werden, über den in der Stadtverwaltung aber keiner reden will? Oder ist Gentrifizierung nur ein Kampfbegriff, der die Wirklichkeit hier nicht trifft oder doch stark verzerrt?

 

Die Fraktionspositionen der Ratsausschüsse für Soziales und für Technik, die sich am Montag mit diesen Fragen befasst haben, gingen weit auseinander. Ausgangspunkt der Debatte: eine Studie des Deutschen Institut für Urbanistik (wir haben berichtet). Wolf-Christian Strauss vom Difu erklärte, dass es Verdrängungsprozesse auch in Stuttgart gebe, das hätten Befragungen gezeigt. Er räumte aber ein, dass man eher von „gefühlter Gentrifizierung“ sprechen müsse, von einem „schleichenden Prozess“, für den es „an Evidenz fehlt“, wo genau er geschehe.

Warum die Mieten in Stuttgart im Durchschnitt generell sehr hoch sind, erklärt StuggiTV im Video:

Forscher für mehr Milieuschutz

Strauss gestand der Stadt zu, dass sie schon einige Instrumente einsetze, um dem beschriebenen Phänomen entgegenzuwirken, etwa durch das Zweckentfremdungsverbot, die forcierte Innenentwicklung von Bauflächen, durch das Konzept Stuttgarter Innnenentwicklungsmodell (Sim), das Bauträger verpflichtet, einen Anteil von geförderten Wohnungen zu errichten. Der Difu-Forscher vermisst aber eine klare Linie. So gebe es bisher nur eine Milieuschutzsatzung zur Stabilisierung der sozialen Verhältnisse in einem Stadtteil, München und Berlin machten davon umfangreich Gebrauch. Auch um negative Folgen von Sanierungen, die Gebiete aufwerten, solle sich die Stadt mehr kümmern.

Hier setzte Beate Bulle-Schmid (CDU) an. In Übereinstimmung mit Baubürgermeister Peter Pätzold (Grüne) findet sie, Gentrifizierung sei in Stuttgart „kein signifikantes Problem“. Durch die Programme zur sozialen Stadt wolle man ja gerade eine bessere Durchmischung von Quartieren wie dem Hallschlag erreichen, um der Ghettobildung vorzubeugen. Bulle-Schmid warnte auch vor einer „Überregulierung“ im Wohnungsbau. Das Problem sei, „dass wir zu wenig Wohnraum haben“.

Grüne sehen kein Signifikantes Problem

Clarissa Seitz (Grüne) räumte zwar ein, dass es Verdrängungsprozesse auch in Stuttgart gebe und dass die Studie wichtige Erkenntnisse liefere. „So drängend“ könne das alles aber nicht sein, sonst wäre dies im so politischen Stuttgart ein Thema, sagte Seitz. Durch „ergänzende Nachverdichtung“ wie im Fasanenhof versuche man, Sanierung ohne Verdrängung zu erreichen. Man habe auf Veränderungen bisher „sehr sorgfältig reagiert“, befand auch Sozialbürgermeister Werner Wölfle (Grüne). Ganz anders SPD-Fraktionschef Martin Körner, der angesichts geringer Zahlen im Sozialwohnungsbau eine „neue Politik“ fordert. So müsse der Bestand an kommunalen Wohnungen von sechs auf zehn Prozent erhöht werden. In Frankfurt und Hamburg liege dieser Wert bei 14 Prozent.

Luigi Pantisano von SÖS/Linke-plus lobte die „hervorragende Studie“ des Difu. Es fehle Stuttgart ein „Konzept für eine soziale Stadtentwicklung“. Vor allem dass es in anderen Städten laut Strauss vom Difu keinen „Ersatzneubau“ in sanierungsbedürftigen Gebieten wie in der Keltersiedlung in Zuffenhausen gebe, nahm Pantisano als Bestätigung für die Linke.

Persönliche Angriffe gegen Ratskollegen

Für Michael Conz (FDP) sind die bisherigen Anstrengungen der Stadtverwaltung wie Sim oder das Zweckentfremdungsverbot mangels merklicher Effekte dagegen „sinnlos und kontraproduktiv“.

Heinrich Fiechter (AfD) nannte die Studie und die dort vertretenen Positionen „blanke Ideologie“, „schieren Irrsinn“, eine Ausgeburt kollektivistischen und sozialistischen Denkens und ging Martin Körner und Luigi Pantisano persönlich an.