Ist Atomschutt auf Deponien unbedenklich, oder gibt es doch Gesundheitsrisiken? Die Kritiker hatten unverhofft Beistand von der Landesärztekammer erhalten. Nach einem Gespräch mit Umweltminister Untersteller rudert der Ärztepräsident nun aber zurück.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Für Bürgerinitiativen und Kernkraftgegner hat Franz Untersteller (Grüne) große Sympathie: seine Partei ist ja aus der Widerstandsbewegung gegen die Meiler hervorgegangen. Doch für Proteste, die erst in Folge des Atomausstiegs aufkamen, fehlt dem Umweltminister zunehmend das Verständnis. Wo immer Schutt aus dem Rückbau der Reaktoren gelagert werden soll, gehen die Anwohner auf die Barrikaden – für ihn unbegründet.

 

Nur ein bis zwei Prozent der Abbruchmasse sind so hoch radioaktiv belastet, dass sie in einem Endlager entsorgt werden müssen. Der Rest gilt nicht mehr als Atommüll, sofern die Strahlung zehn Mikrosievert im Jahr nicht überschreitet. Derart „freigemessen“, wie die Fachleute sagen, kann er auf Deponien verfrachtet werden – im Falle des Kernkraftwerks Neckarwestheim in Schwieberdingen bei Ludwigsburg, im Falle von Obrigheim bei Buchen im Neckar-Odenwald-Kreis.

Diskussion um Gesundheitsgefahren

Hier wie dort haben sich längst besorgte Bürger formiert. Sie bangen um ihre Gesundheit und lassen sich ihre Ängste auch von Untersteller nicht nehmen. Dabei hatte der Minister sie durchaus ernst genommen: Im Sommer 2016 verfügte er sogar einen Lieferstopp für den Atomschutt, um etwaige Risiken wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Ende vorigen Jahres gab das von ihm beauftragte Öko-Institut dann Entwarnung: Weder für Erwachsene noch für Kinder gebe es eine Gesundheitsgefahr, es bestehe „absolut kein Grund zur Sorge“. Bei den zehn Mikrosievert handele es sich um einen „extrem niedrig angesetzten Vorsorgewert“, der weit unter der natürlichen Strahlung liege. Also wurde das „Moratorium“ aufgehoben – und die Proteste schwollen wieder an.

Umso schwerer traf es Untersteller, als die Kritiker scheinbar kundigen Beistand bekamen. Wenige Tage später fasste die Vertreterversammlung der Landesärztekammer – von der Öffentlichkeit zunächst unbemerkt – einen brisanten Beschluss. „Keine Freigabe radioaktiven Restmülls“, lautete ihre Forderung; das Land solle sich für Lager auf den Kraftwerksgeländen einsetzen, „bis definitive und gesundheitlich zu verantwortende Lösungen . . . gefunden sind“. „Als Ärzte wissen wir, dass es keine Schwellenwerte für die Unbedenklichkeit von ionisierender Strahlung gibt“. Auch „vermeintlich geringe Strahlenmengen“ könnten schaden; Spätfolgen über Generationen hinweg seien nicht auszuschließen.

Nach und nach zog das Papier Kreise, die Bürgerinitiativen sahen sich in ihrem Misstrauen gegen Untersteller bestätigt. Wenn sogar die offizielle Vertretung der Mediziner Bedenken habe, liege man ja wohl richtig. Der Minister dagegen war fassungslos. Das Ärztevotum „entbehrt einer fachlichen Grundlage“, sagte er unserer Zeitung, er könne es „nicht nachvollziehen“. Beim Röntgen etwa würden Patienten einer jährlichen Belastung von durchschnittlich knapp 2000 Mikrosievert ausgesetzt – also ein Vielfaches des Atomschutts. Die zusätzliche Strahlung dadurch sei „vernachlässigbar“.

Untersteller über Votum erbost

Inzwischen freilich sind der Ärztekammer ob ihrer Entschließung Bedenken gekommen. Nach einem Gespräch mit dem Umweltminister wurde der Text jedenfalls „vorübergehend vom Netz genommen“, wie ein Sprecher bestätigte. Es hätten sich „neue Aspekte und Erkenntnisse“ ergeben. In welcher Form er wieder auf die Homepage komme, entscheide der Vorstand in seiner nächsten Sitzung am 25. Januar.

Schon jetzt rudert der Kammerpräsident Ulrich Clever zurück: Aus seiner Sicht entspreche das heutige Freigabeverfahren dem Stand von Wissenschaft und Technik und erscheine „auch gesundheitlich verantwortbar“. Durch das Vorgehen des Landes werde das bereits „sehr niedrige“ Risiko „nochmals reduziert“, lobt Clever. Das Moratorium und das Gutachten des Ökoinstituts seien in dem Beschluss „leider unerwähnt“ geblieben. Am Ende der langen Versammlung, sagen Insider, sei dieser offenbar „durchgerutscht“.

Im SWR-Fernsehen sah Untersteller seine Einschätzung, der Atomschutt sei harmlos, derweil plakativ bestätigt. Eine Granitplatte in der Küche oder Mineraldünger aus dem Baumarkt, hatte er gesagt, strahle stärker. In der Sendung „Zur Sache“ wurde also ein Sack Kunstdünger durch die Freimessanlage geschleust – und siehe da: Er kam nicht durch, müsste also streng genommen als Atommüll entsorgt werden.