Experten suchen hektisch nach Konsequenzen, um Flugzeugunglücke wie den Absturz einer Germanwings-Maschine künftig zu verhindern. Aber vielleicht ist das gar nicht möglich.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Die Gesellschaft ist gerade stark beschäftigt. Sie versucht, Probleme zu lösen. Man kann das verstehen. Eine Katastrophe wie der Absturz der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen erschüttert die allermeisten Deutschen tief, weckt Wellen des Mitgefühls für die Opfer und ihre Familien, rührt auch an Urängste eigener Verletzbarkeit. Und die inzwischen recht sichere These, dass diese Katastrophe von einem einzelnen Menschen willentlich herbeigeführt wurde, ohne Rücksicht auf 149 andere Menschen, steigert das Entsetzen noch. Wie war das nur möglich? Vor allem: Wer hätte es verhindern können?

 

Die deutsche Öffentlichkeit trauert also – und sie sucht nach den Problemen, die zu lösen sind, damit sich so etwas nie wieder ereignen kann. Beides betreibt sie ausgiebig, Letzteres hektisch. Sie kann offenbar keinesfalls warten, bis die ermittelnden Behörden ein halbwegs vollständiges Bild von den Ereignissen liefern. Vielmehr wird jeder Zwischenstand, jedes Neuigkeiten-Puzzleteil sofort zum Anlass für politische, wirtschaftliche, fluglogistische Reformforderungen jedweder Art. Die Welt hat eine derart schreckliche Katastrophe wie den Germanwings-Absturz zugelassen? Die Welt muss verändert werden.

Der Co-Pilot konnte ungestört den Sinkflug der Maschine durchführen, weil er ganz allein im Cockpit war? Bereits 24 Stunden nach Bekanntwerden dieses Umstandes erklären es nun auch die europäischen Airlines zur Pflicht, dass solche Solo-Aufenthalte in der Leitstelle eines Flugzeuges künftig verboten sind, mit welchem Effekt auch immer. Der Co-Pilot war eigentlich seit Tagen in ärztlicher Behandlung und offiziell krankgeschrieben, hat seinen Arbeitgeber aber darüber nicht informiert? Womöglich muss man die ärztliche Schweigepflicht aufheben, zumindest bei der Berufsgruppe der Piloten. Oder auch bei anderen sicherheitsrelevanten Berufsgruppen? Bei Lokomotivführern? Busfahrern? Polizisten? Chirurgen?

Vielleicht sind sinnvolle Konsequenzen gar nicht möglich

Noch ein Puzzleteil: der Co-Pilot litt vor und während seiner Ausbildung an Depressionen und galt als suizidal? Unterschätzen wir also das gesellschaftliche Drohpotenzial durch Depressive? Müssen ehedem suizidale Patienten auch nach Abklingen ihrer Stimmung zu regelmäßigen Untersuchungen verpflichtet werden? Sind derartige Zustände in irgendeiner Form an irgendeiner Stelle amtlich zu melden, damit Unternehmen und Behörden beim Besetzen besonders sensibler Stellen entsprechende Informationen einholen können?

Es ist ganz sicher notwendig, bei jedem Schreckensfall nach den Ursachen zu forschen, seien sie technischer oder menschlicher Natur, um mögliche sinnvolle Konsequenzen daraus zu ziehen. Was aber, wenn sinnvolle Konsequenzen gar nicht möglich wären? Was, wenn die Ermittler zum Schluss vielmehr ein Bild liefern, demzufolge ein unglücklicher Mensch unter fatalen, aber kaum vorhersehbaren Umständen, letztlich auch infolge einiger Zufälle eine Tat vollbringen konnte, die nicht nur seinen eigenen Tod verursachte, sondern auch den Tod von 149 anderen Menschen? Menschen, die eine Kette weiterer fataler Zufälle in seine Gewalt gebracht hatte?

Was, wenn die Quintessenz aller Forschungen wäre – Achtung, wir sprechen im Konjunktiv, die Untersuchungen laufen ja noch, laufen womöglich noch sehr lange –, dass hier eine Katastrophe stattgefunden hat, deren Verhinderung niemandem realistisch möglich war, es sei denn, just ein anderer, ein positiv wirkender Zufall hätte dieses Verhindern ermöglicht oder ausgelöst? Aber gerade solch ein Zufall, von dem wir im Zusammenhang mit anderen, in letzter Minute gerade noch verhinderten Katastrophen schon gehört haben, blieb in diesem Fall eben leider aus? Was, wenn zum Schluss nur diese eine Erkenntnis bliebe: zu unserem Glück geschehen Katastrophen dieser Art nur sehr selten, zu unserem möglichen Unglück aber können sie uns trotzdem jederzeit drohen – schlicht als Schicksal?

Die Moderne mag keine Leere

Die Menschheit hat dem Geist der Aufklärung Freiheit, Persönlichkeit, Menschenrechte und zumindest die Option einer vernünftigen Regierung und eines glücklichen Lebens zu verdanken. Am Segen dieser Geisteshaltung ist in keinem Moment zu zweifeln. Was aber die aufgeklärte Gesellschaft in ihrer heutigen, modern-aktuellen Form zutiefst schreckt, das sind die zwei, drei Leerstellen, die sich im Leben und im Alltag allem Glücksstreben grundsätzlich entziehen. Zufall, Unglück, Krankheit, Schicksal sind solche Leerstellen.

Weil unsere Moderne das Unwägbare kaum, eigentlich gar nicht erträgt, füllt sie die derart drohende Leere mit hektischer Betriebsamkeit in Gestalt von Problemlöserei. Und je tiefer der Schreck in ihren Gliedern sitzt, desto schneller ist sie bereit, die Leere zu stopfen mit utopischen Modellen, hinter deren Glücksverheißung sich nur ein nackter, im Kern jedes Glück verratender Totalitarismus verbirgt. Sie strebt dann zum Beispiel mit Macht nach einer Gesellschaft, die keine Ungleichheit mehr kennt. Oder nach einem Leben, das ohne Risiko von Krankheit oder Siechtum rechtzeitig erlischt. Oder sie fordert ein Konstrukt, das alle seelisch kranken, alle seelisch labilen Menschen verpflichtet zur Betreuung und Obhut, zur regelmäßigen Überprüfung und Zuweisung in sichere Lebensumstände, selbstverständlich nur zu deren und zu unser aller Besten.

Alles hat der Mensch in seiner eigenen Hand, so lautete die befreiende Botschaft der Aufklärer. All das aber, was er eben dann doch nicht in der eigenen Hand hat, erweckte ihr Unverständnis, ihre Empörung. Voltaire, zweifellos einer der großen Geister des Abendlandes, empörte sich beispielsweise 1755 zutiefst über das verheerende Erdbeben von Lissabon. Ein derartiges Maß an menschlichem Leid war ihm unerträglich. „Aber wie kann man sich gegen ein Erdbeben empören?“, fragt darüber irritiert der junge Hans Castorp auf Thomas Manns„Zauberberg“ seinen Lehrmeister Ludovico Settembrini, diesen Vertreter freudig-hoffnungsvollen Geistes- und Gesellschaftsfortschritts. Und natürlich verteidigt Settembrini seinen Helden und dessen „unknechtischen Stolz, der sich einfach weigert, vor der dummen Macht, nämlich vor der Natur, abzudanken“.

Manchmal würde es helfen, alle blieben einfach still

Nun wird niemand ernsthaft verlangen, vor der Natur „abzudanken“ (oder Unglücke einfach kühl hinzunehmen). Aber das letzten Endes Nicht-gut-Veränderbare auszuhalten, das wäre ein Gewinn. Wie der Zufall es will, fallen all diese Debatten ja in eine Feiertagszeit, die just das Aushalten zum Thema hat, die Karwoche und das Osterfest. Kritiker und Verächter des Christentums haben ein leichtes Spiel, über dasjenige zu spotten, was Christen in diesen Tagen feiern: einen Gott, der stirbt, und eine Kirche, die behauptet, Tage später sei er wieder lebendig geworden. Der Spott hat einen tieferen Grund: Was sich am Karfreitag auftut, das ist Leere. Die katholische Kirche zelebriert sie besonders stimmig, indem sie zu diesem Tag den Altar leer räumt. Schön ist das nicht. Wer sich diesem Gedanken aussetzt, muss ihn aushalten – in der Hoffnung auf einen Ostermorgen, der alles ändern könnte. Eine Hoffnung, mehr nicht.

Schicksal – leider eben solch ein Donnerwort wie „Ewigkeit“, um den Titel einer Bach-Kantate zu zitieren. Wer in diesen Tagen nach dem Flugzeugabsturz die unzähligen Experten in den Talkshows hört, entdeckt hinter der Flut der Forderungen auch eine verzweifelte Allmachtssehnsucht: Gebt uns die Sicherheit zurück! Man kann das verstehen. Die Alternative wäre viel anstrengender: eine in Mitgefühl wurzelnde Stille. Und Warten. Mancherorts heißt die Karwoche übrigens „Stille Woche“.

In der plötzlichen Stille nach einem schweren Schneesturm findet übrigens auch Hans Castorp auf dem „Zauberberg“ zu einem wichtigen Vorsatz für sein weiteres Leben: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“ Der Tod kann in mancher Weise Herrschaft ausüben über das Leben. Im Streben nach absoluter, alles beruhigender Sicherheit tut er es auf besonders subtile Weise. Es gibt Probleme, die können wir mit guten Ergebnissen lösen. Und es gibt andere.