War es ein Tor oder nicht? Nach der strittigen Szene im Spiel England gegen Ukraine ist die Debatte um Torrichter wieder entbrannt: Die Uefa vertraut Menschen, die Fifa der Technik – und letztere wird sich wohl durchsetzen.

Warschau - Es sind seltsame Szenen, die sich da Morgen für Morgen im kleinen Agrykola-Stadium in Warschau abspielen. Als seien sie die 17. Mannschaft dieses Europameisterschaftsturniers, treffen sich hier die Schiedsrichter zur gemeinsamen Übungseinheit. Angeleitet von Fitnesstrainern arbeiten sie an ihrer Physis, üben Abseitsentscheidungen, und manchmal steht eine Sondereinheit für die „zusätzlichen Schiedsrichterassistenten“ auf dem Programm. So wie am Mittwoch, als die sogenannten Torrichter kurz hinter der Linie geklärte Schüsse bewerten mussten.

 

Szenen also wie jene aus dem Spiel der Ukraine gegen England, die Oleg Blochin zur Weisglut getrieben hat. „Sie haben uns ein Tor gestohlen“, hatte der ukrainische Trainer gezürnt, „die Schiedsrichter sind schuld, das war ein ganz klares Tor!“ Und Pierluigi Collina, der bei dieser EM für die Unparteiischen zuständige Uefa-Funktionär, bestätigte diese Einschätzung tags darauf. Dem Torrichter in Donezk war ein fataler Fehler unterlaufen, er hatte nicht erkannt, dass der Ball hinter der Linie war.

Collina hielt dennoch eine lange Lobrede auf das Uefa-Experiment mit den zusätzlichen Assistenten, das seit drei Jahren in der Champions League, seit zwei Spielzeiten in der Europa League und nun auch bei der EM läuft. „In rund tausend Spielen hatten wir nur diesen einen Fehler“, referierte der ehemalige Weltklasseschiedsrichter aus Italien. Doch diese eine Szene könnte das Ende des Versuchs bedeuten. Denn gegen den Willen der Uefa ist der Weltverband Fifa kurz davor, eine Überwachung der Torlinie mit technischen Hilfsmitteln einzuführen.

Für Blatter ist die Torlinientechnik jetzt eine „Notwendigkeit“

Und der fatale Fehler von der EM stärkt den Fifa-Präsidenten Joseph Blatter in seinen Plänen. „Nach dem Spiel am Mittwochabend ist Torlinientechnik nicht mehr nur eine Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit“, twitterte Blatter am Mittwoch, es war eine Botschaft mit schadenfrohem Unterton. Dabei hielt auch Blatter technische Hilfsmittel lange für ein Werk des Teufels, erst seit der Fehlentscheidung aus dem Spiel der Engländer gegen Deutschland während der WM 2010 versucht sich der Fifa-Präsident mit seinem Votum für die Technik als Reformer zu profilieren.

Michel Platini, der bis zum Dienstagabend dachte, mit seinen Torrichtern die bessere Lösung zu haben, weiß das natürlich. Vor einigen Tagen sagte der Uefa-Präsident: Blatter werde „die Technologie einführen, aber ich glaube, das ist ein großer Fehler, denn es wird erst der Anfang sein“. Platini sagt, er fürchte, dass bald auch Fouls oder Abseitsentscheidungen technisch aufgelöst werden.

Doch diese Argumentation ist schwer nachvollziehbar, das International Football Association Board (IFAB), das über jede Regeländerung entscheidet, ist eine durch und durch konservative Institution. Die Befürworter der Torlinientechnologie haben zehn Jahre lang vergeblich versucht, ihre Innovation durchzubringen, erst die weltweite Empörung nach dem nicht gewerteten WM-Tor führte zum Einlenken.

Sondersitzung am 5. Juli in Zürich

Zuvor, im März 2010, hatte das IFAB entschieden, dass die Torlinientechnik niemals eingeführt werde. Das sei eine endgültige Entscheidung, hieß es, alle weiteren Forschungen wurden beendet. Dann kam die WM 2010 und statt nach Uefa-Vorbild Torrichter einzuführen, beauftragte der Weltverband die schweizerische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa die Torlinientechnologien von acht Unternehmen zu begutachten. Zwei Techniken überstanden diese erste Testphase: das Hawk-Eye, das seit Jahren im Tennis eingesetzt wird, und ein Chip-im-Ball, der vom Fraunhofer-Institut für integrierte Schaltungen in Erlangen entwickelt wurde.

Am 5. Juli trifft sich das IFAB nun in Zürich zu einer Sondersitzung, die Empa legt ihren Abschlussbericht vor, und auf der Grundlage dieser Ergebnisse wird abgestimmt, welche Technik eingeführt wird. Der Weg zum Einsatz auch in der Bundesliga wäre frei – zumindest wenn eines der beiden Systeme störungsfrei funktioniert.