Ludwigsburg hätte den Start ins Industriezeitalter fast verschlafen. Wenn es um Schienen und Bahnen geht, wird es in der Barockstadt offenbar immer kompliziert.

Ludwigsburg - Nein, die Geschichte wiederholt sich nicht, dennoch: Man darf staunen oder sich die Augen reiben, wenn man beim Blick in die Geschichtsbücher ganz offensichtlich wiederkehrende Besonderheiten entdeckt. So zum Beispiel beim Thema Eisenbahn und Schienenwege von und nach Ludwigsburg. Als alle Welt den Anschluss an die neue Zeit in Form von Dampflokomotiven und – relativ – schnellen Schienenverbindungen wollte, hielten sich die Bewohner der Barockstadt bedeckt: Eisenbahn? Brauchen wir das wirklich? Und auch als der Bahnhof dann endlich stand, konnte man ihn erst nach einem jahrzehntelangen erbitterten Streit über Straßen- und Trassenführungen auch wirklich nutzen.

 

Investoren bleiben aus

Der um mehr als 20 Jahre verzögerte Beginn von Industrie und Wohlstand in Ludwigsburg ist die eine Folge dieses Kapitels in der Eisenbahngeschichte. Dass durch den einmal gewählten Standort Verkehrsprobleme generiert wurden, die zum Teil noch heute nachwirken – Stichwort: Nadelöhr Schillerdurchlass oder Abkopplung der Weststadt – ist die andere. Denn, anders als etwa in Stuttgart, ist der Bahnhof von Ludwigsburg immer an der gleichen Stelle geblieben. Auch wenn er im Laufe der Zeit mehrfach gründlich um- oder ganz neu gebaut worden ist.

In England fuhren die ersten Eisenbahnen bereits 1825, in Deutschland von 1835 an. Immerhin: In Württemberg wurde 1843 per königlichem Dekret angeordnet, dass auf Staatskosten Eisenbahnen zu bauen seien. Zwei Jahre später war das erste Teilstück zwischen Cannstatt und Untertürkheim fertiggestellt. 1846 waren auch Gleise bis nach Ludwigsburg verlegt. Doch als der neue Verkehrsknoten am 1. Oktober eingeweiht werden sollte, machte den Verantwortlichen sehr schlechtes Wetter einen Strich durch die Rechnung. Ein Omen, das lange nachwirkte.

Zwar konnte die Eröffnung des Bahnhofs am 5. Oktober nachgeholt werden, aber der Halt in Ludwigsburg blieb noch 23 Jahre lang vom Wetter abhängig. Der Grund: Die Distanz zwischen Stadt und Bahnhof war nur bei gutem Wetter trockenen Fußes zu überwinden. Jeglicher Lastverkehr musste ohnehin weite Umwege über die Seestraße oder die Solitudestraße nehmen. Die direkteste Verbindung zur Bahnstation führte durch ein Feuchtgebiet – die sogenannten Schafhofseen.

Nach einem Gewitter oder bei anhaltendem Regen war der nur notdürftig mit Holzbohlen befestigte Weg kaum passierbar. Die Klagen über Morast, Nässe und Schmutz füllen viele Briefwechsel aus jener Zeit. Ludwigsburg hatte nur einen Gutwetter-Bahnhof. Die erwartete Belebung von Handel und Industrie blieb aus. Niemand investierte in einer Stadt mit derart schlechter Verkehrsanbindung.

Erste Überlegungen für den Bau einer befestigten Straße zum Bahnhof gab es schon in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Aber alle Pläne scheiterten am Geld. Die Kosten für eine stabile Straße, die das Sumpfgebiet der früheren Schafhofseen überbrückt hätte, wurden auf 11 000 Gulden geschätzt. Aber die Eisenbahngesellschaft sagte gerade einmal eine Kostenübernahme von 850 Gulden zu. Für die Barockstadt war das keine Basis.

Ein starrsinniger Krösus

1858 wurde der schwerreiche General Ferdinand Heinrich von Mylius im Rathaus vorstellig: Der Militär erklärte, er werde der Stadt aus der Klemme helfen und 8000 Gulden für den Straßenbau stiften. Damit schienen alle Hindernisse aus dem Weg geräumt zu sein. Doch der großherzige General war auch sehr starrköpfig. Der Krösus knüpfte sein Zahlungsversprechen an eine ganz bestimmte Straßenführung – sie entspricht ziemlich genau dem Verlauf der heutigen Myliusstraße.

Dass diese Straße zunächst doch nicht gebaut wurde lag daran, dass ein Architekt eine andere Route empfahl: Einen Weg, dem weniger alte Gebäude zum Opfer gefallen wären. Als sich der Gemeinderat für den Alternativvorschlag entschied, zog Mylius sein Angebot zurück. Von nun an stritten der verärgerte Krösus und die Stadtherren unerbittlich über den Verlauf der Straße und die künftige Nutzung angrenzender Grundstücke. Und obwohl die Ludwigsburger dem Mäzen vertraglich zusicherten, die künftige Straße nach ihm zu benennen, änderte der vergrätzte General kurz vor seinem Tod 1866 noch einmal sein Testament: Wollte er vorher sein auf 450 000 Franc geschätztes Vermögen ganz der Stadt vermachen, setzte er nun einen Freund, den Generalleutnant Orville, als Universalerben ein.

Dieser zeigte sich großzügig und übergab der Stadt zwei Jahre später 10 000 Franc (etwa 5000 Gulden). Nun konnten die Bauarbeiten beginnen. Im Oktober 1869 war die Straße fertig, und schon bald wurden die ersten Häuser gebaut. Die Myliusstraße war die erste, die diagonal zum bis dahin nur rechtwinkligen Straßennetz Ludwigsburgs geführt wurde.