Populisten wenden sich gezielt an die programmatisch Uninformierten. Die Aufklärung stößt an ihre Grenzen: Wie diskutiert man mit Bürgern, die Wissen ablehnen?
Stuttgart - Gerade war der EU-Ratspräsident Donald Tusk in London und fragte bei der britischen Premierministerin Theresa May höflich an, wann London denn nun gedenke, seinen Austritt aus der Europäischen Union zu erklären. May wiegelte ab. Man sei noch lange nicht so weit mit den Vorbereitungen, müsse sich erst weiteren Überblick verschaffen. Man bitte um Geduld und um Verständnis.
Die Brexit-Volksabstimmung in Großbritannien ist inzwischen weit über zwei Monate her. Propagandisten des EU-Austritts wie Boris Johnson behaupteten zuvor täglich, die Renationalisierung von britischer Politik und Wirtschaft sei praktisch ein Kinderspiel. Gleich in der Woche nach der Wahl könne es losgehen, und prompt würden Milliarden an Pfund in bisher marode britische Schulen und Krankenhäuser fließen. Nicht nur politische Gegner, auch neutrale Kommentatoren wiesen immer wieder darauf hin, dass vieles in Johnsons Kampagne einseitig konstruiert, manches sogar gelogen war. Aber die Brexit-Befürworter schwindelten gar nicht aus Dummheit. Viele von ihnen sind schlau; Boris Johnson ist es allemal. Sie schwindelten aus Frechheit. Und die Frechheit hat gesiegt.
Haltlose Forderungen
Ob es der US-amerikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump oder die französische Präsidentschaftsanwärterin Marine Le Pen ist: Sie werden nicht müde, eine völlig haltlose Forderung nach der anderen aufzustellen; haltlos, weil sie weder im Einklang mit Fakten noch mit den Regeln des Rechts stehen. Sie tun dies aber keineswegs aus Versehen oder aufgrund mangelnder Intelligenz, sondern aus Kalkül und Prinzip. Sie wollen siegen. Also sind sie frech. Denn derzeit siegt populistische Frechheit auf breiter Front.
Die Mittel klassischer Aufklärung, mit denen politische Gegner, Journalisten und Experten versuchen, die zahlreichen Widersprüche in den Forderungen der neuen Populisten aufzudecken, schlagen völlig fehl. Johnson, Trump oder Le Pen wenden sich in ihren Kampagnen nicht an die Informierten, sondern an die programmatisch Uninformierten. Es wird scheinbar immer sinnloser, in die öffentliche Debatte noch mehr Informationen einspeisen oder Widersprüche aufdecken zu wollen. Die klassischen Instrumente der öffentlichen Debatte in einer offenen, demokratischen Gesellschaft – das Benennen der Tatsache, das Suchen nach Ursachen, das Differenzieren und Abwägen von Positionen – stoßen an ihre Grenzen. Frechheit könnte zuhören. Will es aber gar nicht.
Hybris ist die Kehrseite des Irrtums
Barack Obama gewann 2008 auch deswegen die Präsidentschaftswahl, weil es ihm gelang, Wähler zu aktivieren, die bisher aus Distanz zum politischen System den Wahlen fern geblieben waren. Er konnte sie überzeugen, dass es klüger sei, sich als Teil eines offenen poltischen Systems zu begreifen und daran zu partizipieren. Donald Trump will die Präsidentschaftswahl 2016 gewinnen, indem er Wähler aktiviert, die ein offenes politisches System verachten und sich einen Herrscher wünschen, der mit den Regeln dieses Systems radikal bricht. Alle Versuche innerhalb des Systems, über die zerstörerischen Tendenzen im Wollen und Wirken eines Populisten à la Trump hinzuweisen, können nicht fruchten. Just wegen seiner zerstörerischen Tendenzen wird er geschätzt.
Eigentlich ist es in allen politischen Gesprächen das schlechteste Argument und die ärgerlichste Stelle, wenn eine Seite der anderen vorwirft, sie habe von diesem oder jenem Sachverhalt überhaupt keine Ahnung, sei naiv und blauäugig, solle sich überhaupt erst einmal mit den Fakten vertraut machen. Aber in der Auseinandersetzung mit den derzeit populären Populisten spielt diese Ebene auch längst keine Rolle mehr. Boris Johnson, Donald Trump oder Marine Le Pen vorzuwerfen, sie seien dumm und hätten von den Fakten keine Ahnung, wäre seinerseits sehr dumm. Einer der größten Fehler der Aufklärung war stets, ihre Gegner als dumm und geschmacklos zu verachten und gering zu schätzen. Wenn die Aufklärung scheiterte, dann scheiterte sie entweder an diesem Irrtum oder an ihrer Hybris. Wobei Hybris nur die Kehrseite des Irrtums ist.
Mitmenschlichkeit ist immer analog
Was in dieser Lage der offenen, demokratischen Gesellschaft weiterhilft? Es steht offenbar kein schnell wirksames Mittel parat. Bis auf Weiteres gibt es nur einzelne Werkzeuge: Hinschauen und Erklären führen weiter als Ignorieren oder Beschönigen. Überschäumende Gefühle führen nie wirklich weit, selbst wenn sie im Dienst einer guten Sache stehen.
Die Bahnen des demokratischen Rechtsstaates lernen plötzlich auch jene schätzen, die ihn früher nur als Kampfbegriff der Konservativen wahrnehmen mochten. Und: Die Werte einer offenen Gesellschaft lassen sich nicht allein in Netzwerken bewahren, ob nun sozial oder nicht. Debatten mögen im Digitalen funktionieren. Mitmenschlichkeit kann nie anders sein als analog. All dies wäre ein Rüstzeug. Eine Lösung ist es noch nicht.